»The Tragedy of 228«: Taiwans langer Kampf um die Demokratie
Es ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Am 27. Februar 1947 erwischen Beamte des staatlichen Monopolamtes in Taipeh eine Händlerin beim Verkauf geschmuggelter ausländischer Zigaretten. Die Frau rechtfertigt sich, sagt, sie habe eine Familie zu ernähren. Schnell erhitzen sich die Gemüter. Ein Wort ergibt das andere, und aus der verbalen wird eine tätliche Auseinandersetzung, als ein Beamter die Frau schlägt. Umstehende mischen sich ein. Bald zieht eine aufgebrachte Menge zum Monopolamt und zu verschiedenen Polizeistationen. In den folgenden Tagen kommt es auch in anderen Städten in Taiwan zu Demonstrationen.
Bürgerinnen und Bürger bilden Komitees, die der Regierung Forderungen vorlegen. Wahlen gehören dazu und eine stärkere Berücksichtigung von Taiwanern bei der Besetzung öffentlicher Ämter. Denn obwohl die Republik China unter ihrem Präsidenten Chiang Kai-Shek von der nationalchinesischen Partei Kuomintang (KMT) zwei Jahre zuvor die japanische Kolonialherrschaft über Taiwan abgelöst hatte, fühlen sich viele Taiwaner weiter als Bürger zweiter Klasse.
Auch jetzt lässt sich die Regierung nur zum Schein auf Verhandlungen ein. Währenddessen sammelt sie auf dem chinesischen Festland Truppen, mit deren Hilfe sie den Aufstand in den kommenden Wochen blutig niederschlägt. Aktuellen Schätzungen zufolge sterben dabei zwischen 18 000 und 28 000 Menschen.
Die dramatischen Ereignisse vom 28. Februar und der folgenden Wochen, die oft als »228« abgekürzt werden, gelten in Taiwan als wichtiger Wende- und Bezugspunkt der Zeitgeschichte. Ein Wendepunkt sind sie, weil mit dem Aufstand klar wurde, dass sich die KMT-Regierung nur mit Waffengewalt vor der Bevölkerung schützen konnte. Ein Bezugspunkt hingegen ist der »Zwischenfall vom 28. Februar«, wie er offiziell meist genannt wird, seit jeher für die Demokratiebewegung Taiwans, die in dem Aufstand den Willen der Bevölkerungsmehrheit erkannte. Nach der Einführung der Demokratie in den späten 1980er Jahren wurde das Datum zum Feiertag ernannt.
Hier zu Lande ist die taiwanische Zeitgeschichte dagegen weitgehend unbekannt. Dabei ist Taiwan wegen der weltbedeutenden Halbleiterindustrie und des geopolitischen Konflikts mit der Regierung der Volksrepublik China, die die Insel als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet, häufig in den Medien präsent. Mehr Wissen über die Vergangenheit Taiwans wäre wichtig, um aktuelle Entwicklungen besser einordnen zu können.
Dem Ziel der historischen Aufklärung hat sich in Taiwan die »Memorial Foundation of 228« verpflichtet. Ihr gehören namhafte Historikerinnen und Historiker an. Drei von ihnen, Chen Yi-Shen, Hsueh Hua-Yuan und Yang Chen-Long, haben nun unter dem Titel »The Tragedy of 228« einen fast 600 Seiten starken englischsprachigen Sammelband herausgegeben, der den aktuellen Forschungsstand präsentieren will. Kann dieses aus einer wissenschaftlichen Konferenz hervorgegangene Buch auch außerhalb der Fachöffentlichkeit einen Beitrag leisten, das Wissen über die taiwanische Zeitgeschichte zu mehren?
Die Autorinnen und Autoren der insgesamt acht recht ausführlichen Beiträge konnten bei ihrer Arbeit tausende erst in den vergangenen Jahren frei gegebene Akten nutzen. Das führt sie zu durchaus interessanten Erkenntnissen. So spielte die Kommunistische Partei (KP), mit der sich das Regime von Chiang Kai-Shek auf dem Festland im Bürgerkrieg befand, bei dem Aufstand wohl nur eine zu vernachlässigende Rolle. Weniger als 100 Taiwanerinnen und Taiwaner waren in der KP aktiv. Den Kommunisten aber hatte die Regierung die Verantwortung für die Eskalation zugeschoben. Stattdessen sehen die Autorinnen und Autoren den Grund für den Aufstand in der grassierenden Korruption und Vetternwirtschaft. Die begünstigte vor allem KMT-Kader vom Festland und ihre Familien, während sich die wirtschaftliche Lage auf Taiwan rapide verschlechterte. Fabriken schlossen, und die Arbeitslosigkeit stieg. Manche Frauen prostituierten sich in ihrer Not sogar. Für die blutige Unterdrückung trugen dem Bericht zufolge vor allem der Generalgouverneur Chen Yi und Präsident Chiang Kai-Shek die Verantwortung, die nicht bereit waren, auf Forderungen der Demonstranten einzugehen.
Die Autorinnen und Autoren des Sammelwerkes beschäftigen sich auch etwa mit dem internationalen Rechtsstatus von Taiwan in den 1940er Jahren, dem Mediensystem auf der Insel oder der Rolle der Geheimdienste während des Aufstands. Obwohl alle diese Fragen aus wissenschaftlicher Perspektive sicherlich sehr relevant und interessant sind, gehen sie für ein allgemeines internationales Publikum oft zu sehr ins Detail. Als Aufsatzsammlung fehlt dem Werk eine durchgängige Struktur oder zumindest ein Kapitel, das die komplexe Geschichte Taiwans wenigstens in Grundzügen erläutert. Wer sich nicht bereits auskennt, droht in dem informationsgesättigten Werk verloren zu gehen.
Dazu kommt, dass das Buch nur schwer zu beziehen ist. Die einfachsten Wege dürften der direkte Kontakt zur Memorial Foundation of 228 in Taipeh oder der Import via Amazon sein. Eine gut lesbare, am besten sogar deutschsprachige Zeitgeschichte Taiwans bleibt damit leider nach wie vor ein offener Wunsch.
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