Missionare und Mäzene
Der Blick des Westens auf den Islam ist oft einseitig und wenig differenziert. Dessen konfessionelle Vielfalt wird selten berücksichtigt, Unterschiede zwischen Staaten oder Dynastien kaum thematisiert. Viele sprechen verallgemeinernd von »islamischer« Kunst oder Kultur.
Der Kulturhistoriker Assadullah Souren Melikian-Chirvani, Forschungsleiter des Aga Khan Trust for Culture und kuratorischer Leiter des Aga Khan Museum in Toronto, hat nun diesen üppigen Bildband herausgegeben, der die Perspektive erweitert. Das Buch bietet westlichen Lesern die Möglichkeit, einen Eindruck zu bekommen von den höchst individuellen und vielfältigen Ausprägungen der »islamischen Welt« und ihrer Geschichte. Der Band lenkt den Blick auf die fatimidische Kunst, Kultur und Architektur.
Die Fatimiden führten ihre Abstammung auf die Tochter des Propheten, Fatima, zurück. Als Herrscher über Nordafrika und Syrien erhoben sie vom 10. bis zum 12. Jahrhundert als bisher einzige Dynastie den ismailitischen Glauben zur Staatsreligion, der zu den schiitischen Konfessionen zählt und dem heute rund 20 Millionen Menschen angehören. Viele archäologische Artefakte aus dieser Zeit bleiben vorerst rätselhaft, was ihre Bedeutung und Herkunft anbelangt. Unzweifelhaft ist jedoch die große Diversität der fatimidischen Gesellschaft, in der Christen, Juden und Muslime verschiedener Konfessionen friedlich zusammenlebten – trotz des missionarischen Anspruchs des Kalifats. Eine Vielfalt, die sich in Kunst und Kultur spiegelte.
Einflüsse bis nach Sizilien
Die internationale Ausrichtung des Fatimidenreichs und die immense Wertschätzung, die Kunstschaffende dort seitens der Eliten erfuhren, trugen zu einer Blüte der Kreativität bei. Die fatimidische Kunst strahlte über die Reichsgrenzen bis nach Sizilien aus; im Gegenzug lassen sich Einflüsse aus fernen Regionen wie dem Iran erkennen. Trotzdem blieb die Kunst unverkennbar fatimidisch geprägt und zeigt viele einzigartige Elemente. Besonders auffallend sind die ungewöhnlich großen Freiheiten der Künstler; so sind von ihnen zahlreiche karikierende oder ironische Darstellungen erhalten.
In insgesamt 17 Beiträgen zeigen führende Experten die Bandbreite fatimidischer Kultur und Lebenswirklichkeit. Anhand der vielen Bilder von Objekten und Malereien lassen sich Eindrücke oft deutlich unmittelbarer gewinnen als nur durch Schriftquellen. Die Beiträge im ersten Teil stellen die fatimidischen Kalifen und wichtige Kunstrichtungen von Architektur bis Literatur vor und eignen sich deshalb gut zur Einführung. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Melikian-Chirvani, der mit detektivischem Spürsinn und dabei sehr gut zugänglich aktuelle Forschungsfragen thematisiert – etwa den bisher unbekannten Ursprung der typischen, golden bemalten Keramik oder den Verbleib der aus Schriftquellen bekannten, eindrucksvollen Messing- und Silbergefäße, von denen heute kaum noch Spuren zu finden sind.
Der zweite Teil des Bands befasst sich mit der Koexistenz der drei großen Religionen Islam, Christen- und Judentum im fatimidischen Reich. Ein Team um Johannes den Heijer, Professor für arabische Sprache und Literatur in Löwen, und Mat Immerzeel, Kunsthistoriker und Archäologe in Leiden und Amsterdam, stellt beispielsweise die Kunst und Kultur der christlichen Bevölkerungsgruppen vor, deren Netzwerke für die spätere Entwicklung christlicher Kunst in Ägypten überaus bedeutsam waren.
Im dritten Teil schließlich geht es um die internationalen Verbindungen des Kalifats. Ein besonderer Fokus liegt auf den wechselseitigen Einflüssen zwischen den Fatimiden und der übrigen arabischen Welt. Maribel Fierro, Professorin für Arabic and Islamic Studies am Spanischen Nationalen Forschungsrat (CSIC), illustriert die Bedeutung der neu gegründeten Hauptstadt Kairo als Handelszentrum und die weit reichenden Beziehungen der Fatimiden zu anderen islamischen Reichen. Lotfi Abdeljaouad vom Institut National du Patrimoine (INP) in Tunesien zeigt anhand beeindruckender, großformatiger Fotos die Entwicklung der fatimidischen Kalligrafie unter arabischen Einflüssen. Die Leser bekommen so Einblicke in verschiedenste Aspekte. Durch die Gegenüberstellung fatimidischer und anderer islamischer Kunst wird die Komplexität der islamischen Welt auch für Laien deutlich, ohne dabei zu überwältigen.
Das Buch ist durchweg auf Englisch und verlangt ein fortgeschrittenes Sprachverständnis. Viele Beiträge sind inhaltlich für interessierte Laien gut zugänglich. Für darüber hinaus Interessierte stehen eine umfangreiche Bibliografie sowie ein kurzer Katalog zur Verfügung. Die prachtvollen Bilder laden aber auch einfach zum Stöbern und Staunen ein.
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