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Der Anti-Luther

Das Reformationsjubiläum 2017 steht im Zeichen des Augustinermönchs Martin Luther (1483-1546). Dabei wird gern übersehen, dass es vor 500 Jahren auch andere reformatorische Lesarten des Evangeliums gab. "Die Reformation entstand aus dem Gewirr vieler Stimmen", erklärt Hans-Jürgen Goertz, Theologe und Sozialhistoriker. Er hat eine völlig überarbeitete und teilweise neu geschriebene Biografie des radikalen Predigers Thomas Müntzer (1489-1525) vorgelegt, eines Zeitgenossen Luthers. Goertz gilt seit Jahren als ausgewiesener Kenner der Materie; in dem Buch präsentiert er seinen Protagonisten als engagierten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit im Namen Gottes.

1513 zum Priester geweiht, ging Müntzer auf Distanz zur katholischen Kurie, noch bevor Luther das tat. Scharf kritisierte er die sittlich verlotterte Geistlichkeit, forderte eine grundlegende Reform der Kirche. Doch er wollte noch mehr: eine Gesellschaft, in der nur der Glaube der Menschen zählt und nicht ihr Stand. Der wortgewaltige Theologe sah in der Unterdrückung der Bauern, die als Leibeigene ihren Herren ausgeliefert und als Hörige zur Fronarbeit verpflichtet waren, einen Widerspruch zum Evangelium.

Umbruch in Kirche und Gesellschaft

Müntzer forderte für alle Menschen das "gottgegebene Recht auf Freiheit und Gleichheit". Menschen sollten nicht mehr über Menschen herrschen, sondern einander in apostolischer Brüderlichkeit begegnen. "Omnia sunt communia" – alles gehört allen, so das Credo des Predigers, der einen radikalen Umbruch in Kirche und Gesellschaft anstrebte. Darin unterschied er sich grundlegend von Luther, der lediglich auf kirchliche Erneuerung zielte, die weltliche Herrschaft der Obrigkeit aber als "gottgewollt" ansah. Wie aus dem Buch hervorgeht, verknüpfte Müntzer sozialrevolutionäre Ideen mit eschatologischen Heilserwartungen. Die Bauern sah er als Werkzeuge eines himmlischen Gerichts an, die den Weg für eine neue göttliche Ordnung im Diesseits ebenen sollten.

Müntzers sozialrevolutionäre Ideen fielen beim "einfachen Volk" auf fruchtbaren Boden, den Fürsten allerdings gingen sie zu weit, stellten sie doch ihre Macht in Frage. Als der Prediger 1525 im thüringischen Mühlhausen offen zum Sturz der politischen Ordnung aufrief, machten die Landesfürsten – von Luther dazu ermuntert – gegen den "Mordpropheten" mobil.

Bei Frankenhausen, am Fuße des Kyffhäuser Berges, setzte sich Müntzer an die Spitze eines Bauernheeres, um den Mansfelder Grafen zu entmachten. Der Versuch endete in einem Blutbad, in dem das Gegenheer der Fürsten etwa 5000 Bauern niedermetzelte. Der Prediger selbst wurde gefangengenommen, gefoltert und hingerichtet. Seiner physischen Vernichtung folgte bald die literarische, an der Luther maßgeblich mitwirkte.

Ein Kind seiner Zeit

Es ist Goertz` großes Verdienst, Müntzers revolutionäre Seite nicht von der theologischen abzukoppeln, sondern beide als sich gegenseitig bedingend darzustellen. Der Autor beweist ein feines Gespür für Wandlungen und Entwicklungen; er beleuchtet die kirchlichen und gesellschaftlichen Wirren am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Wie sehr Müntzer in der Ideenwelt seiner Zeit verwurzelt war, zeigt sich in seinen Vorstellungen vom jüngsten Gericht, die im Spätmittelalter Gemeingut waren. Kämpferische Sprengkraft erhielt sein Wirken, weil er "die Glut apokalyptischer Erwartung zu revolutionärem Feuer entfachte".

Anders als Luther erkannte Müntzer nicht, dass die Erneuerung der Kirche nur zusammen mit den Landesfürsten machbar war. Ihn deswegen jedoch als "vom Leibhaftigen besessenen aufrührerischen Mordbuben" (Luther) zu verunglimpfen, sei laut Goertz genauso falsch wie der Versuch marxistischer Geschichtsschreibung, den Prediger zum revolutionären Vorkämpfer für das Proletariat zu stilisieren. Das Buch rückt das verzerrte Geschichtsbild des oft missverstandenen Reformators zurecht und lässt ihm späte Gerechtigkeit widerfahren.

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