Fährtenlesen
Gut 800 Seiten dick, fast 2,5 Kilogramm schwer – das ist schon mal eine Ansage. Joscha Grolms hat nicht einfach irgendein Buch über das Spurenlesen geschrieben. »Tierspuren Europas. Spuren und Zeichen bestimmen und interpretieren«, das im Juni 2021 im Ulmer Verlag erschienen ist, will DAS Standardwerk zum Thema sein – und schafft es auch spielend.
Akribisch genau
Bislang hat sich kein Autor an die Mammutaufgabe herangewagt, alles zum Thema, jede Spur, die sich unterscheiden lässt, von jedem Tier, das in Europa vorkommt, so akribisch und detailgenau wie nur möglich zwischen zwei Buchdeckel zu bannen. Grolms gelingt genau das: Auf einer Doppelseite im Buch arbeitet er beispielsweise durch Fotos und Spurbilder tatsächlich die Unterschiede der Trittsiegel von Weißzahnspitzmäusen im Vergleich zu denen von Rotzahnspitzmäusen heraus. Und das, obwohl wahrscheinlich 95 Prozent der Bevölkerung nicht einmal wissen, dass es Weiß- und Rotzahnspitzmäuse überhaupt gibt. Geschweige denn, dass man sie anhand ihrer Spuren auseinanderhalten könnte.
Dennoch richtet sich das umfangreiche Werk gleichermaßen an Experten wie an Laien. Es ist das Werk eines Spurenlesers für andere Spurenleser: Joscha Grolms beschäftigt sich schon viele Jahre professionell mit der Materie. Nach dem Abitur ging er für ein Jahr in die USA, um bei einem Native American das Handwerk des Spurenlesens zu lernen. Seit seiner Rückkehr ist er in der »Wildnisschule Wildniswissen« aktiv, bei den Pionieren in Sachen Fährtenlesen in Deutschland. Dort gibt er Kurse und bildet sich auch selbst immer weiter fort.
In Deutschland ist Grolms der Einzige, der die weltweit zertifizierten Prüfungen im Spurenlesen abnehmen darf. In der kleinen, aber stetig wachsenden internationalen Community ist er bestens vernetzt: Mark Elbbroch, ein Pionier des modernen Spurenlesens und Autor des Standardwerks über die nordamerikanische Tierwelt, war einer der Ideengeber für das vorliegende Buch und hat auch einige der Texte darin geschrieben. Viele der Fotos von Fußabdrücken und Spuren haben andere passionierte Spurenleser beigesteuert. Für die ambitionierten Fährtensucher sind die standardisierten Längen- und Breitenangaben der Trittsiegel und die aufwändigen Tusche-Punkt-Zeichnungen des Autors von unschätzbarem Wert.
Für den Laien wirkt das vielleicht wie eine Detailversessenheit, mit der er zunächst nicht so viel anfangen kann. Aber auch Einsteiger kommen mit dem Buch auf ihre Kosten: Für ein wissenschaftliches Standardwerk sind die »Tierspuren Europas« erstaunlich luftig und bunt geraten. Auf fast jeder Seite finden sich große, aussagekräftige Farbfotos. Zu jedem Tier, das behandelt wird, gibt es eine übersichtliche Beschreibung der Art, ihrer Lebensweise und der Spuren, die sie hinterlässt. Je nach Häufigkeit werden den Arten mehr oder weniger Seiten gewidmet. So umfasst das Kapitel zum allgegenwärtigen Wildschwein ganze zehn Seiten, der Abschnitt über den Ichneumon – einen kleinen Mungo, der nur im Süden der Iberischen Halbinsel vorkommt – oder den Goldschakal jeweils »nur« vier Seiten.
Neben den genauen Vermessungen der Trittsiegel (für Experten) beschreibt der Autor einfachere Spuren: Den Mahlbaum der Wildschweine oder eine Suhle werden auch Laien erkennen, wenn sie beim Waldspaziergang darüber stolpern. Gleiches gilt für die geschälten Zapfen, die ein Eichhörnchen hinterlässt, oder die Schnabelabdrücke eines Spechts, der ein Stück Borke vom Baum gehebelt hat.
Anfänger erfahren etwas über die Geschichte des Fährtenlesens und darüber, welche Fragen man sich dabei ständig stellt: Neben der offensichtlichsten: »Welches Tier war es?« gehören dazu auch »Was ist hier passiert?« und »Warum war das Tier hier?«. Wer mit solchen Fragen im Gepäck zum Spaziergang aufbricht, erlebt fast automatisch ein kleines Abenteuer.
Man kann sich beliebig weit und tief in den Spuren der Tiere verlieren. Genauso gut kann man aber auch bei null anfangen. Aha-Erlebnisse sind garantiert. Das ist das Schöne am Fährtenlesen und an diesem Buch: Es wächst mit dem Kenntnisstand und bedient die Bedürfnisse von Anfängern und Experten gleichermaßen.
Die Entfremdung von der Natur hat schon vor Jahrhunderten eingesetzt. In unserer globalisierten und technisierten Welt schreitet sie immer schneller voran. »Tierspuren Europas« hält dagegen, weil es den Zauber der Möglichkeiten zeigt: Wer weiß, dass man sogar Spitzmausarten an ihren Spuren auseinanderhalten kann, findet vielleicht seinen Glauben an die Fähigkeit zurück, die Natur zu verstehen.
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