»Todeswalzer«: Das Jahr vor dem Ende
Es sind vor allem zwei Ereignisse, die mit dem Jahr 1944 in Verbindung gebracht werden: zum einen die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni und zum anderen das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli. Beide Daten stehen für den Beginn des letzten Kapitels des Zweiten Weltkriegs in Europa und für das Ende der Nazidiktatur. Der Sommer 1944 war ein entscheidender Wendepunkt, die deutsche Wehrmacht war auf dem Rückzug, aber die Monate bis zur Kapitulation wurden die blutigste Phase des Krieges.
Diese Zeit beschreibt der Publizist Christian Bommarius – und um es vorwegzunehmen: Er legt ein beeindruckendes Buch vor, das bekannte historische Fakten aufnimmt und diese mit Geschichten, Eindrücken und Erlebnissen von Menschen aus dieser Zeit verbindet. Es wird von bekannten und weniger bekannten Regionen und Orten des Krieges erzählt, von Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen, aus verschiedenen Generationen und vor unterschiedlichen sozialen wie gesellschaftlichen Hintergründen. So gelingt es Bommarius, ein ebenso komplexes wie erschütterndes Bild dieses letzten Kriegssommers zu zeichnen.
Dunkle Ahnungen
Beeindruckend ist vor allem, wie der Autor die Auswirkungen des Kriegsverlaufs auf militärische, politische und zivile Lebensbereiche schildert. Zuweilen wird in den vermeintlich »kleinen« Geschichten einzelner Menschen die gesamte Tragik des Krieges fassbar, so etwa in der Person des Soldaten Martin Hauser. Hauser war Jude und emigrierte 1933 im Alter von 18 Jahren von Paris nach Palästina. Wie etwa 30 000 andere Juden aus Palästina diente er in der British Army und war 1944 in der Nähe der italienischen Stadt Bari stationiert und auf dem Vormarsch nach Norden. Neben einem zerstörten Bahnhofsgebäude traf er auf Menschen, die sich in der Nähe eines Güterzugs in Sprachen wie Deutsch, Polnisch, Ungarisch und Hebräisch unterhielten. In seinem Tagebuch beschrieb Hauser dieses Erlebnis gleichsam als eine Reise zu einem neuen Leben. Die Befreiung immer weiterer Gebiete von den Deutschen, der Einmarsch der Alliierten in Rom und die Landung in der Normandie versetzten Hauser und seine Kameraden in eine positive Stimmung. Gleichzeitig ahnte er, dass bis zum Ende des Krieges noch mehr Menschen sterben würden als in den ganzen fünf vorangegangenen Kriegsjahren zusammen. Er sollte mit dieser Ahnung Recht behalten.
Interessant ist auch, wie Bommarius mit Blick auf verschiedene Sphären des Krieges die Absicht und die Wirkung der Propaganda im Dritten Reich rekonstruiert. So erschien 1944 der Kinofilm »Die Degenhardts«, in dem zum ersten Mal die Zerstörung deutscher Städte durch den Luftkrieg gezeigt wird. Propagandaminister Joseph Goebbels nimmt den Film ab und lobt ihn. Er soll den Durchhaltewillen der »Volksgemeinschaft« stärken und zum gemeinsamen Aufbau der Städte auffordern. Heinrich George spielt darin den Familienpatriarchen Karl Degenhardt, der nach den Luftangriffen auf Lübeck aus seinem Ruhestand zurückkehrt, um der »Volkgemeinschaft« zu dienen. George erhielt für diese Rolle eine Gage von 100 000 Reichsmark, die gesamten Produktionskosten betrugen 1,2 Millionen Reichsmark. Trotz des immensen finanziellen Aufwands hatte der Film keinen Erfolg. Vielleicht spiegelte er die Realität der Zerstörung doch zu sehr wider, und vielleicht hatten zu viele Menschen Angst davor, nach dem Kinobesuch etwas Falsches zu sagen. Immerhin war 1943 der lutherische Pastor Karl Friedrich Stellbrink zum Tode verurteilt und geköpft worden, weil er den Luftangriff auf Lübeck als mächtige »Stimme Gottes« gedeutet hatte – was natürlich nicht im Sinn der Gestapo war.
So versteht es Bommarius, dem Leser das gesamte Verhängnis des Dritten Reichs verdichtet, manchmal auf nur drei Seiten, vor Augen zu führen. Etwa am Beispiel Königsbergs. Die Heimatstadt Immanuel Kants wurde im Jahr 1944 durch zwei Bombenangriffe vernichtet. Das Grabmal Kants blieb erhalten, sein philosophisches Erbe jedoch nicht: Der Weg führte weg vom Vernunftbegriff der Aufklärung, von der Bücherverbrennung 1933 über die Zerstörung der Synagogen 1938 bis hin zum Jahr 1940, als der spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz den Lehrstuhl Kants besetzte. Lorenz lehrte, dass im Rahmen der »Rassenpflege« ethisch minderwertige Menschen ausgerottet werden müssten – und zwar noch radikaler, als dies bisher geschehe.
Bommarius legt mit seinem Buch die dichte Beschreibung einer Zeit vor, die den Leser auch noch 80 Jahre nach dem D-Day fassungslos macht. Man beschließt die Lektüre mit dem Wunsch, eine solche Zeit niemals selbst erleben zu müssen.
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