Direkt zum Inhalt

Rätselhafte Raumzeit

Dass interdisziplinärer Austausch den Einzelwissenschaften nützt, dürfte inzwischen Konsens sein. Er hilft aber auch, die breite Öffentlichkeit an der Wissensgesellschaft teilhaben zu lassen. Denn wenn man trotz akademischer Differenzierung und Spezialisierung miteinander reden und sich gegenseitig anregen kann, scheinen gemeinsame Lösungen der Grundsatzprobleme noch möglich.

Funktioniert dieser hehre Ansatz auch im Falle von Physik und Philosophie? Das vorliegende Buch eint Beiträge führender Physiker und Wissenschaftsphilosophen, die sich mit dem Ringen um eine Metatheorie der Raumzeit befassen. Das Werk zeigt exemplarisch, wie interdisziplinärer Austausch funktionieren kann, aber auch, wie schwierig sich die Suche nach einer leistungsfähigen Methodik gestaltet. Hervorgegangen ist es aus einer Konferenz im Jahr 2010 am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung (IZWT) der Bergischen Universität Wuppertal.

Wissen als vorübergehender Konsens

Über einen Mangel an Grundsatzproblemen können sich heute weder Physiker noch Philosophen beklagen. So gut wie alles, was in der Tradition der menschlichen Geistesgeschichte und Erkenntnis als vertrauenswürdiges Wissen galt, erscheint vor dem Hintergrund moderner physikalischer Theorien nicht mehr als Gewissheit, sondern als lokal erkämpfter, temporärer Konsens. Das betrifft insbesondere das theoretisch formulierbare und empirisch abgesicherte Wissen darüber, was Materie und Raumzeit sind, beziehungsweise in welcher Wechselwirkung die Konstituenten der real angenommenen Welt zueinander und mit dem erkennenden Subjekt stehen.

Der hohe Mathematisierungsgrad der Theorien gilt als Gütekriterium, geht aber mit einem inzwischen problematischen Verlust von Anschaulichkeit einher. Wie real sind Mannigfaltigkeiten, Tensoren, Metrik und Kovarianz? Gibt es von den Spin-Netzwerken einen Weg zurück zur guten alten klassischen Raumzeit? Ungelöste Probleme wie diese regen zwar zu intensiveren und tiefer gehenden Diskussionen an. Doch führt dies zu gemeinsamen Lösungen?

Die heutige Physik ist gewissermaßen tragisch schön: so erfolgreich und zugleich so unvollendet. Gut hundert Jahre, nachdem Relativitätstheorien und Quantenphysik die ehemals absolute Raumzeit zum Mitspieler in einem verwobenen Geschehen machten, sind die damit zusammenhängenden konzeptuellen und technischen Schwierigkeiten kaum kleiner geworden. Die Allgemeine Relativitätstheorie hat, besonders seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts, Konkurrenz bekommen; es gibt inzwischen eine Fülle von alternativen Ansätzen. Hier setzen die Herausgeber des Buchs an – sie möchten klären helfen, worin sich diese Ansätze in mathematischer und physikalischer Hinsicht unterscheiden und in welchem Theorienraum sie sich überhaupt bewegen. Oft findet die philosophische Reflexion der damit einhergehenden Begrifflichkeiten und Methoden in engen Fachkreisen statt. Auch das vorliegende Buch wendet sich zuvorderst an Fachleute, während es für Studierende und interessierte Laien eine fordernde Lektüre darstellt. Doch Durchhalten wird reich belohnt – mit fachlichen Einsichten aus erster Hand nämlich.

Theorien im Vergleich

Eine ausführliche Einleitung befasst sich mit dem Stand der Forschung und methodischen Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer Metatheorie der Raumzeittheorien, unter denen die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) weiterhin die Referenz darstellt. Da die ART sowohl eine Raumzeit- als auch eine Feldtheorie ist, ergibt sich die Frage nach dem zu untersuchenden Theorienraum: Soll man die der ART benachbarten Raumzeit- oder Feldtheorien betrachten? Das ist hinsichtlich der physikalischen Qualität ein bedeutsamer Unterschied. Deshalb muss unter anderem geklärt werden, was eine Theorie zu einer raumzeitlichen macht, damit der Vergleich zwischen entsprechenden Ansätzen gelingt.

In zehn maximal dichten Kapiteln stellen die Autoren die ART detailliert je einer oder zwei ihrer Konkurrentinnen gegenüber – aus unterschiedlichen physikphilosophischen Perspektiven. Dabei konzentrieren sie sich meist auf Energiebedingungen, Symmetriegruppen und Erhaltungssätze, Feldgleichungen und fundamentale geometrische Objekte. Den willkommenen Kontrapunkt bildet ein philosophischer Beitrag zur modelltheoretischen Analyse der Raumzeittheorien, der überzeugend die konzeptuellen Schwierigkeiten bezüglich der mathematischen Termini beziehungsweise der Beziehungen zur Erfahrungswelt herausarbeitet. Bis auf die letzten zwei Kapitel, die unter anderem den Zeitbegriff in der ART und den Quantentheorien der Gravitation vergleichen, befasst sich der Band durchweg mit klassischen Raumzeittheorien. Dies erlaubt tiefgehende Analysen im Grenzgebiet von Physik und Philosophie, auch wenn das übergeordnete Ziel, die Theorienlandschaft zu kartieren, in weiter Ferne bleibt. Das Werk leistet Pionierarbeit in Sachen Theorienklassifizierung.

Das Buch ist gelungen insofern, dass man nach der Lektüre den Stand der Diskussion und die erkenntnistheoretischen Leistungen der Physiker im Ansatz nachvollziehen kann. Vieles bleibt jedoch schwierig; insbesondere der Zusammenhang zwischen mathematischem Formalismus und physikalischer "Wahrheit" ist vertrackt und unklar. Im Versuch, den Formelaggregaten Aussagen über die Welt zu entlocken, sowie angesichts der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Physik, ist der Dialog mit der Philosophie notwendiger denn je. Dieses Buch zeigt eindrucksvoll, warum.

Kennen Sie schon …

Sterne und Weltraum – Ursprung des Lebens

Ist unsere Erde der einzige Planet, der Leben hervorbrachte? Ist das Entstehen von Leben tatsächlich so selten und ist es nicht eine zwingende Konsequenz, sobald die Voraussetzungen dafür gegeben sind? Wir beleuchten die Entstehung des Lebens auf der Erde und ob sich dieser Vorgang anderswo im Weltraum wiederholen kann. Darüber hinaus informieren wir Sie über das Debakel um Boeings Starliner, das in einem unbemannten Rückflug von der ISS gipfelte. Sie erfahren von einem an der Gaia-Mission beteiligten Insider Details über das bevorstehende Ende der Mission und wir zeigen die erste hochaufgelöste Galaxienkarte des ESA-Teleskops Euclid. Weiter präsentieren wir Ihnen jede Menge astronomische Himmelsereignisse des Jahres 2025 und Sie erhalten den »Astro-Planer 2025«, mit dem Sie keines dieser Beobachtungs-Highlights verpassen.

Spektrum der Wissenschaft – Was die Welt zusammenhält – Die Entschlüsselung der starken Kernkraft

Die starke Kernkraft bindet Protonen und Neutronen aneinander und führt so zu stabilen Atomkernen. Doch wie groß ist die stärkste aller Kräfte wirklich? Nach jahrzehntelangen Bemühungen haben Physiker den Wert nun berechnet und mit Experimenten verifiziert. Außerdem im Heft: Die Dunkle Energie bewirkt, dass sich unser Universum beschleunigt ausdehnt, gilt aber selbst als konstant. Doch es gibt erste Hinweise, dass sie mit der Zeit schwächer wird. In der Medizin haben die ersten Studien zu mRNA-Impfungen gegen Krebs viel versprechende Ergebnisse. Daneben berichten wir über Papageien, die sich weltweit ausbreiten und sich auch in Deutschland entlang des Rheins wohl fühlen. Was ist das Erfolgsrezept der intelligenten Vögel?

Spektrum der Wissenschaft – Eine neue Weltformel

Rund 100 Jahre währt die Suche der theoretischen Physik nach einer Quantentheorie der Schwerkraft. Doch vielleicht kann die Gravitation in einer Weltformel so bleiben, wie sie ist – zumindest fast. Experimente könnten die neue Theorie schon bald testen. Außerdem im Heft: Die Bedeutung der Böden der Erde wurden lange unterschätzt. Zahlreiche Organismen im Boden zersetzen abgestorbenes organisches Material und fördern so den globalen Kohlenstoffkreislauf. Gammastrahlenblitze mischen gelegentlich die irdische Ionosphäre durch. Aber brachten kosmische Explosionen das Leben auf der Erde schon einmal an den Rand der Existenz? Selbst unter dem Eis des arktischen Ozeans findet man Lava speiende Vulkane und Schwarze Raucher. Dies bietet einen neuen Blick auf die geologischen Vorgänge in unserem Planeten.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.