Die wilden Nachbarn
Vor 2000 Jahren, am 24. Mai 17 n. Chr., feierte der römische Feldherr Germanicus, Adoptivsohn des Kaisers Tiberius, seine Siege in Germanien mit einem glänzenden Triumph. Zugleich befahl Roms Imperator den Rückzug der römischen Legionen hinter den Rhein, was einer Aufgabe von Roms imperialen Träumen im rechtsrheinischen Germanien gleichkam. Wie passt das zusammen? Antworten darauf gibt dieser reich bebilderte Sammelband, der die gleichnamige Ausstellung im LWL-Römermuseum in Haltern am See begleitet. Das Buch beleuchtet die römische Germanienpolitik aus imperialer und regionaler Perspektive.
Den Auftakt macht ein Beitrag, der hinter die Kulissen der Macht blickt und die innerfamiliären Gegensätze im Kaiserhaus bezüglich der römischen Germanienpolitik näher unter die Lupe nimmt. 40 Jahre, nachdem Iulius Caesar Gallien erobert und dem Imperium als Provinz einverleibt hatte, wollte sein Adoptivsohn, Roms erster Kaiser Augustus, auch das rechtsrheinische Germanien bis zur Elbe dauerhaft dem römischen Machtbereich hinzufügen. Augustus' Träume zerplatzten 9 n. Chr., als in der Varusschlacht gleich drei römische Legionen samt Hilfstruppen und Tross vollständig vernichtet wurden – etwa ein Achtel des gesamten imperialen Heeresaufgebots.
Unbezähmbare Barbaren
Zwar gab es in der Folgezeit weitere Versuche, Germanien in eine römische Provinz zu verwandeln, doch blies Roms neuer Kaiser Tiberius – selbst ein erfahrener Militär, der jahrelang gegen die Germanen gekämpft hatte und die Verhältnisse dort gut kannte – im Jahr 16 n. Chr. zum Rückzug. Das Unternehmen Germanien war ihm zu teuer und zu verlustreich geworden. Rom setzte fortan auf Diplomatie statt auf das Schwert, überließ die Germanen ihren alten Rivalitäten, zog sich hinter den Rhein zurück und baute den Fluss als militärisch gut überwachte und gesicherte Grenze aus. Die Militärlager östlich des Rheins gaben die Römer auf – so auch den Stützpunkt Alisio auf dem Gebiet des heutigen Haltern am See, der als Aufmarschbasis für Roms Offensive gedient hatte.
Die durchweg erhellenden und auf dem aktuellen Forschungsstand basierenden Beiträge verschaffen den Lesern einen guten Überblick über Geschichte, Verlauf und Auswirkungen der römischen Germanienfeldzüge um die Zeitenwende. Neben den verschiedenen Anlagen eines Legionslagers, die der Band am Beispiel des gut erforschten Militärstützpunktes Haltern behandelt, widmen sich die Autoren der Logistik des römischen Heers, der Grenzverteidigung am Rhein sowie der Situation im Limeshinterland.
Ein zweiter Themenkomplex beleuchtet den Triumph, jenes typisch römische Großereignis, mit dem die Herren am Tiber jahrhundertelang ihre militärischen Siege über andere Völker zur Schau stellten. Die Leser erfahren allerlei Wissenswertes über Geschichte, Verlauf, Choreografie und Bedeutung dieses pompösen Spektakels. Roms Plätze, Straßen, Tempel und Denkmäler bildeten eine eindrucksvolle Kulisse für die Jubelereignisse. Im Falle des Germanicus, der ein hohes Mitglied des iulisch-claudischen Kaiserhauses war, lagen die Dinge freilich etwas anders. Um vor der breiten Öffentlichkeit die Schmach des Scheiterns zu überspielen, wurden die zweifelhaften militärischen "Erfolge" in Germanien und der strategische Rückzug mittels des Triumphs in Rom in einen Sieg umgedeutet. Diese offizielle Lesart spiegelte sich auf Münzen wider, dem Massenmedium der Antike, aber auch in Kunst und Architektur, wie der Band zeigt.
Vorzüge des römischen Lebensstils
Der dritte Komplex behandelt, wie sich die römische Präsenz links des Rheins auf die Lebenswelt der einheimischen Bevölkerung auswirkte. Dabei schildern die Autoren, was gelungene Integration bedeutete: Römische Eigennahmen anzunehmen; die Kinder in die Schule zu schicken; die Toten römisch zu bestatten und ihnen Grabsteine mit Inschriften zu setzen; Tempel und Wasserleitungen, Theater und Badehäuser zu bauen; sich nach römischem Vorbild zu kleiden zu speisen und die römische Lebensweise anzunehmen. All das waren Facetten eines Prozesses, bei denen die Einheimischen von den Segnungen der Romanisierung profitierten und aus freien Stücken Römer wurden.
Das abschließende Kapitel versucht sich unter dem Motto "Was wäre gewesen, wenn" in spekulativen Gedankenspielen. Ausgehend von den zivilisatorischen Errungenschaften im linksrheinischen Limeshinterland, die auf den römischen Einfluss zurückgingen, geht es der Frage nach, was aus den rechtsrheinischen Gebieten Germaniens geworden wäre, wenn die Römer ihre Offensive nicht abgebrochen hätten. Eine Frage, die im Hinblick auf die kulturgeschichtliche Entwicklung Deutschlands zu allerlei interessanten Überlegungen anregt. Die Autoren nennen zwei gegensätzliche Szenarien: Das eine postuliert, aus freien Germanen wären von Rom abhängige Untertanen geworden, und es gäbe heute kein Deutschland. Dem anderen Szenario zufolge wären Europa mit einem romanisierten Germanien viele Kriege erspart geblieben und eine Einigung des Abendlands schon viel früher zustande gekommen.
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