Kranke Genies
Während seines Studiums galt der amerikanische Mathematiker John Nash (geb. 1928) unter seinen Kommilitonen als komischer Kauz. Tatsächlich legte er ein absonderliches Verhalten an den Tag, für das man ihn später sogar in psychiatrische Kliniken einweisen musste. Er glaubte zeitweise, dass Außerirdische seine Karriere störten, und kündigte die Bildung einer Weltregierung an. Entsprechende Briefe fand man im Postkasten seiner Fakultät am Massachussetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge.
Auf der anderen Seite war Nash ein genialer Mathematiker. Er legte Bachelor- und Masterexamen gleichzeitig ab und wurde früh zum Associate Professor ernannt. Für seine Untersuchungen über Gleichgewichte in nicht-kooperativen Spielen sollte er 1994 sogar den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Doch bis es dazu kam, verlief Nashs Leben alles andere als geradlinig. 1959 diagnostizierten die Ärzte bei ihm paranoide Schizophrenie, eine Krankheit, die ihn zu einer 25-jährigen Schaffenspause zwang. Erst Mitte der 1980er Jahre hatte sich sein Zustand so weit gebessert, dass er wieder arbeiten konnte.
Heinrich Zankl und Katja Betz präsentieren diese und 23 weitere Fallgeschichten. Es sind die Schicksale von Natur- und Geisteswissenschaftlern, die zu den bedeutendsten ihres Fachs zählen. Porträtiert werden der Naturforscher Isaac Newton (1643 – 1727), mit dessen Überleben als Frühchen offenbar niemand gerechnet hatte; ebenso der dauerhaft kränkliche Biologe Charles Darwin (1809 – 1882), Schöpfer der Evolutionstheorie, der unter Krämpfen, Angstzuständen, Depressionen und Schlafstörungen litt. Möglicherweise hatte er sich während seiner Forschungsreisen an Bord der "Beagle" mit der gefährlichen Chagas-Krankheit infiziert, die von Raubwanzen übertragen wird.
Mit dem Rollstuhl in die Schwerelosigkeit
Von Albert Einstein (1879 – 1955), dem Urheber der Relativitätstheorie, vermuten manche Forscher, er habe das Asperger-Syndrom gehabt, eine Störung aus dem Autismus-Spektrum. Darauf könnten Berichte aus seiner Kindheit sowie seine Eheprobleme hindeuten. Sigmund Freud (1856 – 1939), Vater der Psychoanalyse, litt zeitlebens unter Migräne und bekämpfte seine Depressionen mit Kokain. Wegen Gaumenkrebs musste er sich mehreren schmerzhaften Operationen unterziehen. Der Physiker Stephen Hawking (geb. 1942) leidet seit Jahrzehnten an amyotropher Lateralsklerose (ALS), die ihn an den Rollstuhl fesselt. Den frühen Diagnosen zufolge hätte er schon längst tot sein müssen. Verständigen kann er sich nur noch über einen Sprachcomputer, doch seine Beiträge zur theoretischen Physik haben unser Weltbild maßgeblich geprägt. Trotz schwerster körperlicher Behinderung unternahm er 2007 einen Flug in die Schwerelosigkeit.
Zankl und Betz beschreiben biografische Facetten, die nur selten in Lexika zu finden sind. Sie porträtieren bedeutende Wissenschaftler, die mit teils schweren Handicaps lebten und jahrelang gegen diese ankämpften. Die Autoren fragen, inwiefern die Beschäftigung mit einem Fach, die Entwicklung von Selbstdisziplin und wissenschaftlicher Ausdauer dabei helfen können, mit Krankheiten umzugehen. Sie präsentieren Beispiele dafür, dass Erkrankungen wie Krebs oder die Glasknochenkrankheit die Betroffenen dazu motivieren können, ihre Leiden selbst zu erforschen.
Schwierige Retrospektive
Rückblickende Diagnosen von psychischen und körperlichen Gebrechen berühmter Personen sind freilich immer problematisch. Sie gehen in der Regel vom heutigen medizinischen Wissensstand aus, müssen sich aber notgedrungen auf überlieferte Quellen wie Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Berichte Dritter oder Ähnliches stützen. Sofern medizinische Unterlagen über den jeweiligen Wissenschaftler überhaupt existieren, entsprechen sie in der Regel nicht heutigen Standards.
Autor und Verlag meistern diesen Spagat, indem sie die Kapitel zweiteilen. Während der erste Teil die Biografie und Krankengeschichte des jeweils Betroffenen populärwissenschaftlich darstellt, bietet der zweite einen knappen Überblick über die entsprechende Erkrankung aus heutiger Sicht. Doch historische Schlussfolgerungen daraus müssen immer äußerst kritisch betrachtet werden.
Zankl und Betz präsentieren bedeutende Natur- und Geisteswissenschaftler von ungewohnter Seite. Ihr Buch ist nicht nur interessant und aufschlussreich, sondern kann auch Lesern, die von der jeweiligen Erkrankung selbst betroffen sind, Mut machen.
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