Direkt zum Inhalt

Vom Guten und Wahren

Eine neue siebenteilige Essayreihe soll uns fürs moderne Leben wappnen.

Das leuchtende Grün der Buchrücken, auf dem Cover in Blaugrau übergehend, springt sofort ins Auge. Und die schmalen Bändchen wecken zudem die Erwartung, hier werde man kurz und bündig mit dem Rüstzeug für das moderne Leben versorgt. Schließlich will uns diese neue Buchreihe des Berliner Verlags Nicolai Publishing die »Tugenden für das 21. Jahrhundert« nahebringen. Insgesamt sieben Bände behandeln hochaktuelle Themen, darunter Achtsamkeit, Fake News und die Konstruktion des Selbst im digitalen Zeitalter.

Der 3sat-Moderator Gert Scobel, studierter Philosoph und Autor umfangreicher Werke über Weisheit und Meditation, plädiert für eine Kunst des »NichtDenkens«. Diese unterscheide sich vom bloßen »nicht Denken«, das ein Abschalten, eine mentale Auszeit beschreibe. »NichtDenken« sei vielmehr eine Art Selbstdistanzierung, die die Automatik des Denkens erhelle. Denn, so Scobel: »Gedankenschwaden vernebeln die Sicht und machen tendenziell unglücklich.« Der Autor stellt Theorie und Praxis der Achtsamkeit vor und referiert viele Studien von Hirnforschern sowie Psychologen, etwa über die Rolle des »default mode network« (Ruhemodus-Netzwerk) beim Tagträumen. Zudem macht Scobel zahlreiche Anleihen bei fernöstlichen Meditationslehrern. So verknüpft er buddhistisches Gedankengut, Lebensphilosophie und Wissenschaft.

Selbstentgrenzung?

Wie die meisten Vertreter solcher »Besinnungsliteratur« lässt der Essay jedoch offen, worin genau der andere, hellsichtige Zugang zur Realität bestehen soll, den einen die Achtsamkeit lehrt. Was ist dieser »klare, strahlend blaue Himmel« der »wahren Wirklichkeit«? Eine mystische Erfahrung? Eine Selbstentgrenzung, ja Auflösung des Ichs? Und kann es eine solche reine Erkenntnis jenseits des denkenden Subjekts überhaupt geben?

Scobel geht es um das »einfache Bewusstsein des gegenwärtigen Augenblicks, ohne Extras oder Hinzugedachtes«. An einer Stelle im Buch erklärt er, es sei längst noch nicht ausgemacht, dass alle mentalen Zustände auf Hirnaktivität gründen. Doch was wäre ein geistiger Zustand ohne neuronale Basis? Hier schimmert eine transzendete Weltsicht durch, die für manche Leser sicherlich eine Spur zu spirituell ist. Allerdings weist der Autor auch auf mögliche negative Nebeneffekte der Achtsamkeit hin wie beispielsweise das exzessive Wälzen der eigenen Befindlichkeit. Zudem betont er, dass Meditation keinen besseren Menschen aus einem macht. Jene neumodische »McMindfulness«, die zur raschen Selbstoptimierung anleiten soll, bewertet er kritisch.

Während der Fernsehmann Scobel sich in bewusstseinstheoretische Höhen aufschwingt, bleibt der Stuttgarter Philosoph Philipp Hübl in seinem Band »Bullshit-Resistenz« sprachlich und argumentativ bodenständig. Gerade so, als wollten sich die Autoren ihrer jeweils eigenen professionellen Prägung entgegenstemmen, vermeidet der eine den Boulevard-Sound, der andere hingegen den Fachjargon.

Hübl legt in fünf Schritten anschaulich dar, was Wahrheit ist, warum wir sie vor dem grassierenden Unsinn schützen sollten und welche Kompetenzen dafür erforderlich sind. Der Autor sieht nicht im bewussten, von Interessen geleiteten Streuen von Lügen und Legenden das Hauptproblem, sondern in einem um sich greifenden Relativismus: in der Ansicht also, man könne so gut wie alles behaupten, wenn man es nur ansprechend genug verpackt. Eben nicht, erklärt Hübl. Das Streben nach Wahrhaftigkeit und die Einsicht, dass gründliche Überlegung nötig ist, hält er für zentral – in Zeiten von Filterblasen und Fake News mehr denn je.

Wechselnde Identitäten

Der Psychologe und Soziologe Heiko Roehl wiederum behandelt das durch die Digitalisierung zunehmend gefährdete Selbst. Wie Kuratoren unseres eigenen Ichs stellten wir im Alltag, insbesondere in den sozialen Medien, viele verschiedene, schnell wechselnde Identitäten aus – und häufig zur Schau. Dies führe dazu, dass Rollenbilder immer stärker ausdifferenzierten und die damit verbundenen Erwartungen immer unverbindlicher würden. Ein und dieselbe Person inszeniere sich hier als cooler Rockertyp, dort als treu sorgender Daddy, hier als taffe Business-Frau, dort als beste Freundin.

Roehls Diagnose klingt dabei so aufgeregt, als dulde unser unüberschaubares digitales Leben keinen Aufschub hinsichtlich der zu ergreifenden Gegenmaßnahmen. Nur worin die bestehen, bleibt unklar.

Begriffe wie »Hyperdifferenzierung« oder »radikale Reflexivität«, angereichert mit Wortschöpfungen wie »Komplexitätsadäquanz«, klingen zwar toll, sagen allein aber wenig aus.

Manche von Roehls Sätzen kreuzen sogar hart am Rand der Sinnleere, etwa wenn er schreibt: »Mit dem Fokus auf Konvergenz, einem Bemühen um das Gemeinsame und einem wachsenden Verständnis für die systemische Bedingtheit der Themen gelingt die notwendige Wiederanreicherung komplexitätsverarmter Fragestellungen mit den ausgeblendeten Kontexten.« Das ein oder andere Beispiel wäre hilfreich gewesen.

Die Forderung, Identität heute als »iterativ, tentativ und zunehmend sozial konstruiert« zu betrachten, besagt ja zunächst einmal nur, was wir laut Roehl ohnehin alle tun: immer wieder wechselnde »Iche« ausprobieren, ohne uns festzulegen, stets nach den anderen schielen und uns mit ihnen vergleichen. Welchen neuen Umgang mit uns selbst und miteinander empfiehlt der Autor? Schwer zu sagen.

Irritierend ist, dass sich Roehl selbst offenbar nicht festlegen will, sondern lieber ins Abstrakte flüchtet. Einerseits sei es nötig, Komplexität zu reduzieren; andererseits seien eindimensionale Sichtweisen und einfache Antworten natürlich blöd. Einerseits sei jeder viele, andererseits wirken klare Selbsturteile (»So bin ich eben«) heilsam. Was also tun? Eine Tugend, die so wichtig ist wie eh und je, lassen die Essays teils vermissen – die, sich klar auszudrücken.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Selbsthilfe aus dem Schädelknochen

Immuntherapien haben Fortschritte bei der Behandlung verschiedener Krebsarten erzielt, Hirntumoren blieben jedoch weitgehend resistent. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass unser Gehirn über Immunzellen zu verfügen scheint, die sich im Knochenmark der Schädeldecke ansammeln und Tumoren bekämpfen.

Gehirn&Geist – Licht - Wie es unser Denken beflügelt

Wenn die dunkle Jahreszeit beginnt, machen wir es uns gern mit Lichterketten und Kerzen gemütlich. Dabei hellt Licht nicht nur die Stimmung auf: Dank seines Einflusses auf die Hirnfunktion kann das Denken profitieren. Daneben berichten wir, wie Einzelkinder wirklich sind, oder wie Blase und Gehirn beim Urinieren zusammenarbeiten und was es mit dem Harndrang auf sich hat. Unser Artikel über Sigmund Freund widmet sich der unrühmlichen Geschichte der Psychologie und Psychotherapie unterm Hakenkreuz. Im Interview gibt die Psychologin Gilda Giebel Einblicke in den Alltag in der Sicherungsverwahrung. Sie behandelte dort als systemische Therapeutin die brutalsten Männer Deutschlands.

Gehirn&Geist – Faszination Gehirn: 38 Infografiken über unser Denken, Fühlen und Handeln

Weil Sprache allein nicht immer das beste Kommunikationsmittel ist, werden seit 2013 ausgewählte Inhalte auf eine andere Art präsentiert: in Infografiken. Denn manches lässt sich in Bildern so viel einfacher darstellen als mit Worten. In dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist« präsentieren wir ein »Best-of« unserer Infografiken zu Psychologie, Hirnforschung und Medizin. Wie funktioniert unser Orientierungssinn? Was haben Darmbakterien mit der Psyche zu tun? Was macht eine angenehme Unterhaltung aus? Wie wirkt Alkohol im Gehirn? Und warum lassen wir uns im Supermarkt so leicht zu Spontankäufen animieren? Antworten auf diese und viele weitere Fragen finden Sie in dieser Spezialausgabe von »Gehirn&Geist«. Jede der 38 Grafiken im Heft widmet sich einem eigenen Thema.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.