Mit Ross und Lanze
Eine typische Szene in Mittelalterfilmen: Zwei Ritter galoppieren mit gefällten Lanzen gegeneinander. Sie krachen zusammen, die Waffen splittern, einer fällt aus dem Sattel. Was ist dran an diesem historischen Stereotyp? Das beantwortet der vorliegende Bildband auf beinahe 400 Seiten. Kuratoren, Kunsthistoriker und Geschichtswissenschaftler haben 21 Beiträge verfasst, die sich mit diversen Aspekten des ritterlichen Turniers befassen. Der Untertitel "1000 Jahre Ritterspiele" verweist darauf, dass die Anfänge dieser Tradition im späten 11. Jahrhundert liegen.
Den ritterlichen Zweikampf mit der Lanze hoch zu Ross gab es wirklich, wie aus dem Buch hervorgeht. Juste oder tjost genannt, war er eine von vielen Turniervarianten – die nobelste nämlich, die weit gehend den Eliten vorbehalten blieb. Vielfach größere Bedeutung kam dem Massenturnier oder turney zu, dem Gruppenkampf zu Fuß oder im Sattel, der sich von einer echten Schlacht oft nur durch den formellen Rahmen unterschied. Er war brutal und endete für viele Teilnehmer mit dem Tod, weshalb die Kirche wiederholt – und mit eher bescheidenem Erfolg – versuchte, ihn zu verbieten. Beim Massenturnier tobten sich junge Ritter aus und machten Gefangene, die anschließend mit Geld ausgelöst werden mussten; gute Kämpfer konnten sich hier ein kleines Vermögen erstreiten. Als dritte Turnierform stellen die Autoren den buhurt vor, das unblutige Schaureiten, bei dem es auf Geschicklichkeit ankam.
Schockangriff zu Pferd
Gut nachvollziehbar zeigen die Verfasser, wie sich Turnier und militärische Kavallerietaktik parallel entwickelten. Die Ritter tauschten den leichten Speer gegen die wuchtige Lanze, die 15 Kilogramm und mehr wiegen konnte. Unter den Arm geklemmt, wurde sie aus dem Ritt heraus ins Ziel gerammt, wobei sie tatsächlich oft brach, wie historische Darstellungen belegen. Der gewaltige Impuls von Ross und Reiter übertrug sich auf die Lanzenspitze und verlieh ihr panzerbrechende Wirkung. Trichterförmige "Brechscheiben" an der Waffe schützten die Hand des Kämpfers beim Zusammenstoß. Schaftringe (an der Lanze) und Rüsthaken (am Harnisch) verhinderten, dass der Spieß beim Aufprall nach hinten durchrutschte. Zudem nutzten die Reiter modifizierte Sättel, die zu einer hoch sitzenden oder stehenden Reitposition zwangen, was die Kontrolle des Pferds im Harnisch verbesserte. Der Kämpfer focht damit "im hohen Zeug".
Um die brachialen Stöße abzuwehren, trugen die Ritter immer schwerere Rüstungen. Großformatige Fotos in dem Band zeigen vieler solcher Stücke aus Museumsbeständen, die oft sehr kunstvoll gearbeitet sind. Zunächst verstärkte man die Rumpfpanzerung, indem man Eisenplatten in den Waffenrock nietete. Dabei entstand der Plattenrock, den die Kämpfer über dem Kettenhemd trugen. Aus ihm gingen später der elegantere Lentner und die Brigantine hervor: Leder- oder Textilgewänder mit eingearbeiteter Metallpanzerung. Sie wichen im Spätmittelalter dem Plattenharnisch, der ein Höchstmaß an Sicherheit bot. Hinzu kamen spezielle Schilde für den Turniergebrauch, die Tartschen. Man befestigte sie am Oberkörper sowie am Sattel, um Oberschenkel und Knie zu schützen.
Beim so genannten Rennen fochten die Ritter mit scharfen Lanzen und im leichteren Feldharnisch, der rund 20 Kilogramm wog. Im Stechen oder Gestech hingegen kämpften sie mit abgestumpften Spießen und verstärkten Rüstungen, die deutlich schwerer waren. In einem solchen 40- oder 50-Kilo-Spezialharnisch konnte sich mancher Turnierer wohl aus eigener Kraft nicht mehr aufrappeln, wenn er gestürzt war. Hier dürfte die Quelle des Ammenmärchens liegen, Ritter seien generell wehrlos gewesen, wenn sie aus dem Sattel gefallen waren.
Am Beispiel konkreter Turnierveranstaltungen zeigen die Autoren, wie solche Ereignisse abliefen. Ausführlich gehen sie auf die Turnierhöfe der oberdeutschen Adelsgesellschaften ein, die im 15. Jahrhundert ausgetragen wurden. Dort trafen sich ganze Adelssippen – nicht nur zum Kämpfen, sondern auch, um Standesgerichte gegen unritterliches Benehmen abzuhalten, Freundschaften zu schließen und über Heiraten zu verhandeln. Das alles fand in einem straff organisierten, ritualisierten Rahmen statt. Für den Altadel bot sich hier die Gelegenheit, die kriegswichtige Reitkunst zu üben, aber auch, sich von Neuadel und Stadtbürgertum abzugrenzen und den Landesfürsten gegenüber Stärke zu zeigen.
Deutlich davon unterschieden sich Turniere an Königs- und Kaiserhöfen, etwa anlässlich von Taufen, Hochzeiten und Staatsbesuchen, denen die Autoren mehrere Beiträge widmen. Diese teuren Veranstaltungen sollten Führungsstärke demonstrieren und imperiale Macht unterstreichen; begleitende Mummereien (Kostümspiele) und Maskenturniere dienten zudem der Belustigung. An den Höfen der Habsburger entwickelten sich die Turniere im 16. Jahrhundert zu inszenierten Darbietungen mit mythisch-literarischer Rahmenhandlung. Da trat etwa ein Jupiter-Darsteller auf einem künstlichen Berg auf, der mit "Blitzschlägen" (Feuerwerkskörpern) fünf Giganten vertrieb, worauf kostümierte Ritter ein Turnier veranstalteten – eine Anspielung auf den Kaiser, der die rebellischen Reichsfürsten diszipliniert. Diese Spektakel hatten viel mit den frühen Opern gemeinsam.
In den höfischen "Rossballetten" des 17. und 18. Jahrhunderts trat der kämpferische Aspekt schließlich vollends hinter der Show zurück, wie ein weiterer Artikel darlegt. Zu ihnen gehörte das Schau- und Formationsreiten prächtig Gewandeter, begleitet von Musik und "Ringstechen" (carrousel), bei denen die Teilnehmer versuchten, vom Sattel oder einem Drehgestell aus kleine Ringe mit der Lanze zu durchstoßen. Daraus ging im späten 18. Jahrhundert das mechanische Karussell als Jahrmarktsattraktion hervor. "Ohne Kenntnis [der] höfischen Traditionen", heißt es in dem Band, "verbinden wir das carrousel [...] nur mit einem Vergnügen für Kinder, die auf mechanisch bewegten Holzpferden um eine Stange kreisen."
Beiträge über TÜV-Crashtests an Harnischen, über das Spektakel der "Landshuter Hochzeit" oder die praktischen Erfahrungen eines heutigen Turnierers runden das Buch gelungen ab. Damit bietet es einen umfassenden Blick auf das ritterliche Turnierwesen. Die Texte sind zwar manchmal etwas langatmig, aber stets fundiert, ausführlich mit Quellenangaben belegt und üppig bebildert – sowohl mit historischen Darstellungen als auch mit großformatigen Fotos von Museumsstücken und Veranstaltungen. Unterm Strich überzeugt der Bildband als optisch ansprechendes und inhaltlich ergiebiges Werk für alle Interessierten.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben