Von Menschen, Göttern und Atomen
Für die Menschen im antiken Rom und Griechenland muss es ein höhnischer Affront gewesen sein, als der römische Schriftsteller Lukrez (zirka 99-55 v. Chr.) gleich zu Beginn seines Lehrgedichts "Über die Natur der Dinge" ("De rerum natura") behauptete, den Göttern seien die menschlichen Taten egal. In einer späteren Passage dieses Werks verwarf er sogar die Vorstellung, dass "sich ... irgendwo in der Welt die heiligen Wohnstätten der Götter befänden. So fein, wie sie ist, die Natur der Götter, so weit entfernt ist sie unseren Sinnen und diesen nicht zugänglich; auch denkend vermag unser Geist sie kaum zu erfassen." Im Kontrast zu dieser Auffassung verehrten Griechen und Römer Gottheiten, die in Menschengestalt dargestellt wurden, sich laut Mythologie häufig in irdische Belange einmischten und zutiefst menschliche Verhaltensweisen an den Tag legten.
Zwar lehnte Lukrez die Existenz von Göttern nicht ab, verneinte aber, dass diese mit der menschlichen Welt in Kontakt treten. Die uns umgebende Natur betrachtete er aus der Perspektive des Materialismus. Zu den wesentlichen Grundlagen seines Weltbilds zählte der Atomismus, also die Annahme, die Welt sei aus Atomen aufgebaut. Hierin führte Lukrez die Tradition seines philosophischen Vorbilds und Inspirators Epikur (zirka 341-270 v. Chr.) weiter: Dieser hatte postuliert, sogar die Götter bestünden aus Atomen – ebenso wie alles andere. Da jedoch die Natur der irdischen Dinge nicht so feinstofflich sei wie die der göttlichen, könne sie – im Gegensatz zu letzterer – mit den menschlichen Sinnen wahrgenommen werden.
Getrost im Hier und Jetzt
Nun legt der Übersetzer und ehemalige Lektor Klaus Binder eine Neuübersetzung des lukrezschen Lehrgedichts vor. Damit verfolgt er zwei Ziele. Zum einen möchte er den antiken Text heutigen Lesern vermitteln. Das ist anspruchsvoll, da sowohl der Natur- und Lebensphilosophie des Originaltextes als auch dessen literarischer Form Rechnung getragen werden muss. Binder entschied sich dafür, die Versform des Gedichts durch deutsche Prosa zu ersetzen. Dadurch geht zwar die ursprüngliche Gestalt verloren, der Text wird aber leichter zugänglich.
Zum anderen möchte Binder mit seiner Neuübersetzung zeitgenössischen Denkschemata etwas entgegensetzen, die seiner Meinung nach zu sehr durch den "Bannkreis des Schwarzweißen" begrenzt würden: "Wir hängen an einem Wissen, das irgendwann vergessen hat, dass zum Erkennen zweierlei gehört, Berühren und Berührt-Werden. Ein Austausch, Stoffwechsel." Diesen habe Lukrez mittels der in seinem Werk ausgedrückten Sinnenfreude entfaltet. Denn der antike Autor beschreibt eine Welt, die grundsätzlich mit den menschlichen Sinnen erfahrbar ist und in der Leib und Seele eine Einheit bilden. Er widmete den Sinnen sogar ein eigenes Buch.
Lukrez’ Auffassung nach ist auch die Seele aus Atomen aufgebaut und sterblich, so dass ihr Weiterexistieren nach dem Tod unmöglich ist. Somit erscheint die Angst vor dem Tod und einer postmortalen Bestrafung durch die Götter als unbegründet. Der Mensch kann sich also getrost der diesseitigen Welt zuwenden.
Konflikte mit dem Christentum programmiert
Der Naturbegriff, den Lukrez im Sinn führte, ist allumfassend: Er bezieht die Menschen, ihre zivilisatorische Entwicklung und sogar ihre Götter ein. Ein Konzept, das in der Zeit des aufkommenden Christentums anecken musste. Aus dessen Sicht waren an Lukrez’ Lehrgedicht mehrere Dinge problematisch: die darin enthaltene Religionskritik; die hohe Bewertung des Materiell-Körperlichen; die Ansicht, das Universum sei nicht speziell für den Menschen geschaffen und die Menschheit nichts als eine zufällige Laune der Natur. Zudem machte der Atomismus die Annahme eines – theologisch umstrittenen – leeren Raums notwendig. Der Kirchenvater Hieronymus (347-420) beispielsweise polemisierte, Lukrez sei infolge eines Liebestranks dem Wahnsinn verfallen gewesen und habe nur insoweit an seinem Werk arbeiten können, als seine Geistesschwäche ihm dies erlaubte.
Aufgrund solcher Anfeindungen geriet Lukrez’ Lehrgedicht bald in Vergessenheit und wurde erst im 15. Jahrhundert wiederentdeckt. Der Atomismus wurde in der christlichen Theologie abgelehnt. Doch in den folgenden Jahrhunderten beeinflusste das Werk sowohl Naturforscher als auch Philosophen, etwa Marsilio Ficino (1433-1499), Giordano Bruno (1548-1600), Galileo Galilei (1564-1641) und Pierre Gassendi (1592-1655).
Um dem heutigen Leser den Zugang zu erleichtern, hat Binder das Werk umfangreich kommentiert. Zudem fügte er dem Text ein ausführliches Inhaltsverzeichnis an, das im Original nicht vorhanden ist. Eine detaillierte Chronik erzählt die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Lehrgedichts sowie des Atomismus in der Tradition von Epikur.
Die Neuübersetzung Binders ist sowohl für historisch, philosophisch, als auch naturwissenschaftlich interessierte Leser eine lohnende Lektüre. Sie bietet einen detaillierten und faszinierenden Einblick in ein zweitausend Jahre altes Weltbild. Auch wenn Lukrez aus heutiger Sicht an vielen Stellen überholt ist, lässt sich "De rerum natura" noch immer mit großem Gewinn lesen und als Ausgangspunkt für eigenes Philosophieren nutzen.
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