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Paul Ricœur und Sigmund Freud

In jeder erzählten "Wahrheit" steckt ein Funken Fiktion. Das glaubte der französische Philosoph Paul Ricœur (1913 -2005). Selbst die eigene Autobiografie werde konstruiert – wie eine Geschichte.

Aus diesem Grund hat er sich Zeit seines Lebens für Sigmund Freud interessiert. Der Band besteht aus verschiedenen Schriften und Vorträgen des Hermeneutikers, in denen er sich der Psychoanalyse gewidmet hat. Ein Teil davon ist zuvor noch nie veröffentlicht worden. In den Beiträgen setzt sich der Philosoph zum einen kritisch mit methodischen Grundlagen wie dem Empirie-Begriff in der Psychoanalyse auseinander: Was gilt bei Freud als nachprüfbare Tatsache? Wie wird diese erhoben und ausgewertet?

Zum anderen beschreibt Ricœur die Psychoanalyse als eine Kulturtheorie. Sie beschäftige sich nicht mit dem menschlichen Begehren als solches, sondern mit "menschlichem Begehren in seiner mehr oder weniger konflikthaften Beziehung zu den kulturellen Einrichtungen", sprich: zu Eltern, Staat, gesellschaftlichen Tabus, Kunstwerken oder Religionen. Die Psychoanalyse sei laut Ricœur "weit davon entfernt, sich ohne jede Referenz auf Kunstwerke begründet zu haben". So griff Freud bei der Namensgebung des "Ödipus-Komplex" auf eine Gestalt aus der griechischen Mythologie zurück. Umgekehrt habe auch die Psychoanalyse Einfluss auf die Kunst, was sich besonders in den Werken der Wiener Moderne beobachten lasse.

Das Buch deckt ein breites Spektrum von Ricœurs Überlegungen zu Freud ab. Trotz der Komplexität der Gedanken sind sie auf Grund des flüssigen Stils verständlich und dabei stets anregend und herausfordernd. Das ist sicherlich auch der hervorragenden Übersetzung von Ellen Reinke zu verdanken.

Es bleibt die Frage, ob Ricœurs Ausführungen heute noch relevant sind, schließlich sind die Arbeiten zwischen 1962 und 1988 entstanden. Dem kann man jedoch entgegensetzen, dass der französische Hermeneutiker vor allem im deutschsprachigen Raum wenig rezipiert wurde, obwohl er zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt. Schon allein aus einer historischen und wissenschaftsphilosophischen Neugier heraus lohnt sich daher die Lektüre.

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