Survival-Experten im Hochgebirge
Alpenpflanzen sind außergewöhnlich, sie müssen mit extremen Widrigkeiten und Gefahren zurechtkommen: Kälte, Stürme, lange währende Schneebedeckung, intensive Sonneneinstrahlung, sommerliche Hitze mit kurz darauf folgenden nächtlichen Frösten, Nährstoff- und Wassermangel, karge Böden. Trotzdem – oder deshalb – haben sie in einem langen Evolutionsprozess erstaunlich viele »Überlebenskünstler« hervorgebracht. Der Vegetationskundler Thomas Schauer und der Illustrator Stefan Caspari widmen dieses aufwändig gestaltete Buch der ganz besonderen Alpenflora, was ihnen, das sei vorweggenommen, sehr gut gelungen ist.
Der Pflanzenreichtum in den Alpen ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie häufig die Gewächse lebensfeindliche Klima- und Vegetationsperioden überstehen mussten und – von Zufluchtsräumen aus – in relativ kurzer Zeit die Wiederbesiedlung des Alpenraums nach dem letzten eiszeitlichen Maximum schafften. Möglich wurde dies durch besondere Merkmale, etwa Fotosyntheseaktivitäten bereits ab minus fünf Grad Celsius, ein vier- bis fünfmal größeres Feinwurzelsystem als bei Talpflanzen, Symbiosen mit Pilzen und Bakterien, ein Leben als Schmarotzer oder Halbschmarotzer, ungeschlechtliche Vermehrung, winzige Spaltöffnungen, sukkulente Blätter, filzige Behaarung und besondere Anpassungsformen wie Polster- und Spalierwuchs.
50 Arten, dem Untergang zu trotzen
Die Flora der Alpen bildet eine »multikulturelle Vergesellschaftung« von Pflanzenarten, die aus vielen Ländern und mehreren Kontinenten stammen. Jede Gebirgspflanzenart hat in ihrem Lebensraum mit spezifischen bedrohlichen Einwirkungen zu kämpfen, und jede Art hat darauf zugeschnittene Strategien entwickelt. Die Autoren beschreiben und illustrieren anhand von 50 Spezies aus hoch gelegenen Lebensräumen die vielen Möglichkeiten, unter extremen Bedingungen zu überleben – manche davon sind bis jetzt nur ansatzweise erforscht.
Nach einleitenden Hinweisen zur Geschichte der Alpenflora mit ihren vielfältigen Lebensräumen gliedert sich das Buch in elf große Kapitel, in denen, gruppiert nach Habitaten (etwa »Zirbenwald und Zwergstrauchheiden«), Lebensformen (beispielsweise »Halb- und Vollparasiten«) und Vermehrungsarten (etwa »Vegetative Vermehrung«), deren jeweils wichtigste Pflanzenarten vorgestellt werden. »Vom Menschen genutzte Alpenpflanzen« und »Flechten«, die als hochkomplexe Lebensgemeinschaften von Pilzen und Algen keine Pflanzen im eigentlichen Sinn darstellen, ergänzen die Ausführungen.
Exemplarisch sei das am »Lebensraum Pionierstandorte« dargestellt. Die Autoren nennen hier nach einer allgemeinen, bebilderten Beschreibung des Habitats elf typische Spezies (darunter Silberwurz und Schnee-Enzian) und deren grundsätzliche Strategien (Wachsschicht, Pfahlwurzeln, verdickte Cuticula, Spalierwuchs und so weiter). Es folgt eine ausführliche Vorstellung jeder einzelnen Art mit ihren wichtigsten Eigenschaften, ergänzt durch eine die typischen Merkmale betonende farbige Zeichnung und mehrere Fotos. Die Überlebensstrategien werden – im Text farblich hervorgehoben – besonders eingehend beleuchtet. Beim »Blaugrünen Steinbrech« sind dies die dicht geschlossene Oberfläche des Polsters, womit er zu den windhärtesten Alpenpflanzen gehört, eine kräftige Pfahlwurzel, eine dicke Oberhaut und Kalkdrüsen, mit denen er – als Bewohner kalkreicher Standorte – das aufgenommene kalkreiche Wasser wieder ausscheidet und daraus eine Blattkruste bildet, die gegen starke Sonneneinstrahlung schützt und der Pflanze ihre blaugrüne Farbe verleiht.
Vom Menschen genutzte Alpenpflanzen, darunter verschiedene Enziane, Speik, Seifenkraut und Edelweiß, erscheinen in dem Buch mit ihren allgemeinen und nutzbaren Eigenschaften, ebenso mit ihren Gefährdungen durch Klimawandel und Übernutzung, die in vielen Regionen bereits zu starker Dezimierung geführt haben. Pflückverbote oder Nutzungsschonzeiten sind für ihr Überleben ausschlaggebend, wie aus dem Werk hervorgeht. Das Kapitel über Flechten beleuchtet an drei Beispielen deren besondere Überlebensstrategie: das Ausharren in vermeintlich lebloser Kälte- und Trockenstarre über lange Zeiten hinweg. Zur Sprache kommen auch ihre Besiedlungsstrategien, die sie auf jedem Substrat von Erde über Fels bis Rinde gedeihen lassen.
Ein ergiebiges Glossar, Literaturhinweise und ein Pflanzenregister beschließen das hervorragend gestaltete Buch, das in gut lesbarer und klar verständlicher Form ein sehr umfangreiches botanisches Wissen über Alpenpflanzen vermittelt. Überaus sachkundig und mit spürbarer Begeisterung für die Alpenflora haben die beiden Autoren ein botanisches Lese-, Lehr- und Nachschlagebuch mit hohem Genussfaktor geschaffen.
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