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»Umkämpfte Wissenschaften«: Wie viel Politik vertragen die Wissenschaften?

Frieder Vogelmanns Gedanken zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik fehlt es an Klarheit bei der Anwendung soziologischer und erkenntnistheoretischer Kategorien.

Zu den vielfältigen neuen Krisen der letzten Jahre gesellt sich zunehmend die Krise der Wissenschaften. Zwar sind diese imstande, bei konkreten Herausforderungen schnell hervorragende Ergebnisse zu liefern, wenn man etwa an die Entwicklung von Impfstoffen in der COVID-19-Pandemie denkt. Gleichzeitig sind die Wissenschaften zunehmend zum Schauplatz politischer und ideologischer Kämpfe geworden.

Den tieferen Grund für diese Auseinandersetzungen sieht der Philosoph Frieder Vogelmann bei der Grenzziehung zwischen wissenschaftlicher Wahrheitssuche und Pseudowissenschaft – also letztlich in der Wissenschaftstheorie. Obwohl er mit Ludwig Wittgenstein argumentiert, dass Wissenschaften Spielen gleichen und dabei kein einziges Merkmal allen Spielen gemeinsam sei; und obwohl er weiß, dass in der »philosophischen Debatte jene überwiegen, die nicht mehr glauben, eine einheitliche Definition von der ›Wissenschaft‹ finden zu können«, schlägt er dennoch genau diesen Kurs ein. Kann das einem Denker gelingen, der in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, des Poststrukturalismus eines Michel Foucault (1926–1984) und Bruno Latour (1947–2022) sowie einer »feministischen Wissenschaftstheorie« steht? Denn diese betrachten Wissenschaft zumeist als ein System von Machtzusammenhängen.

Das »Abgrenzungsproblem« hat die Wissenschaften seit David Hume (1711–1776) beschäftigt. 1934 veröffentlichte Karl Popper (1902–1994) seine »Logik der Forschung«, darin das »Falsifikationspostulat«, das in den Naturwissenschaften weiter gilt: Wissenschaft könne nichts beweisen, sondern nur Hypothesen »falsifizieren«. Für Vogelmann waltet hier noch ein »nostalgischer Positivismus«. Auch die anerkannte »Wertfreiheit« verwirft er, weil »wissenschaftliche Praktiken auf nicht-epistemische Werte angewiesen sind und diese auch nicht automatisch die Objektivität wissenschaftlichen Wissens bedrohen.«

Ein »methodischer Realismus«, der nicht überzeugt

Der Autor plädiert dagegen für eine »nichtsouveräne Erkenntnistheorie« und einen »methodischen Realismus«, aus denen »ein einfaches, bescheidenes Abgrenzungskriterium« folge. Sein Vorschlag: »Wahrheit als eine Kraft« zu sehen, die aus »sozialen Praktiken« hervorgehe. »Wahrheit als Kraft« spricht er vier Eigenschaften zu: 1. »Ursprung«: Wahrheit »emergiert aus sozialen Praktiken«, ist aber auf diese nicht reduzierbar. 2. »Ziele«: Wahrheit wirke »exklusiv auf Subjektivitäten«. 3. »Effekt«: »selbst alltägliche Wahrheiten (wirken) historisch disruptiv«, ein »Sperrklinkeneffekt« verleihe ihnen den »Anschein von Ewigkeit«. Und 4. »Stärke«: Wahrheit sei eine »vergleichsweise schwach« erscheinende Kraft, die leicht von politischer Macht unter anderem »überlagert und ausgehebelt werden« könne.

Keiner leugnet heute noch, dass Wissenschaften von Menschen betrieben werden und sich in ihren Forschungen möglicherweise ihre Vorurteile, Vorlieben, Eitelkeiten, Machtspiele et cetera abbilden. Das heißt aber nicht per se, dass ihre Ergebnisse selbst von diesen Eigenschaften überlagert werden. Vogelmanns Argumentation trägt wenig zur differenzierten Klärung dieser Sachverhalte bei. Die von ihm postulierten Eigenschaften der »Wahrheit als Kraft« sind wenig aussagekräftig, überzeugen nicht, ebenso wenig die Beispiele, die er als Belege für seine Thesen anführt. Sie muten zum Teil sogar grotesk an. So erschließt sich nicht, was die »aufwühlenden Fakten« der Philosophin Linda Martín Acoff »über meinen Ex-Ehemann« zur wissenschaftstheoretischen Erkenntnis beitragen sollen. Dem Autor dienen sie jedenfalls als Beispiel für die Eigenschaft »Ziele«.

Vogelmanns Wissenschaftsverständnis krankt an seiner Vermengung von Wissenschaft als gesellschaftlicher Praxis einerseits und Epistemologie andererseits. Selbstverständlich muss Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis kritisch durch Wissenschaftstheorie begleitet werden: durch die Reflexion dieser Praxis, der personalen und konstitutionellen Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs, der politischen Interessen und der Methoden des Forschens. Indem der Autor Wissenschaft und Politik aber von vornherein so eng verschränkt denkt, muss er sich unweigerlich an den »politischen Bedingungen wissenschaftlicher Forschung« abarbeiten. Dabei verwechselt Vogelmann Wissenschaftspolitik mit der Wissenschaft selbst, ja sogar mit der Politik. So kritisiert er zwar zurecht, dass Bundesinnenminister Seehofer seinerzeit eine Studie verhindert habe, die innerhalb der Polizei Rassismus untersuchen sollte. Das war aber keine wissenschaftliche Entscheidung, sondern eine politische; mit Erkenntnistheorie hat sie nichts zu tun.

Für die klare Trennung beider Bereiche hatte 2021 Alexander Bogner argumentiert. Indem Vogelmann ihm ausdrücklich widerspricht, verkennt er, dass Wissenschaftler nicht für politisches Handeln legitimiert sind noch Verantwortung für dieses Handeln tragen. Er mag sich zurecht über die »mangelnde Grundausstattung von Hochschulen«, »Sexismus und Rassismus« oder die »Macht der Professoren« innerhalb des Wissenschaftssystems beklagen. Es handelt sich also nicht um Defizite der Wissenschaft als solcher, wie der Autor nahelegt: »It’s the science system, stupid!«

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