"Gottesmörder" und Revolutionär
Für Reverend Thomas Goodwill wird das Dinner, dem er am 8. Oktober 1881 am Tisch der Darwins beiwohnt, zur Tortur. Der Geistliche hat als enger Freund der Familie nicht nur seit Jahren miterleben müssen, wie Charles Darwin (1809-1882) vom Gläubigen zum Agnostiker wurde. Darwins Frau Emma leidet auch noch unter der Angst, ihren geliebten Charles nach dem Tod nicht im Paradies wiederzusehen, da sie für ihn die Hölle befürchtet.
Mit an der Dinnertafel sitzt der englische Zoologe und Sozialist Edward Aveling (1849-1898), ferner der für seinen radikalen Materialismus bekannte deutsche Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824-1899), sowie der in schlechtem Englisch polternde Karl Marx (1818-1883). An Darwins Ausführungen zur Biologie des Regenwurms – seinem letzten großen Forschungsthema – ist niemand interessiert; schnell kommt man auf Gott, Gerechtigkeit, Reformen und Revolution zu sprechen. Im Eifer der weltanschaulichen Debatte schaukelt sich das Dinner auf und endet in einem Eklat, als Reverend Goodwill ohnmächtig vom Stuhl fällt. Um sich und die Situation zu beruhigen, treten Darwin und Marx in den Garten, wo sie in einen persönlichen, eher melancholischen Dialog kommen.
Von Auslese bis Klassenkampf
Obwohl die Teilnehmer dieses Treffens reale historische Personen sind, hat das Dinner selbst nie stattgefunden. Die Journalistin Ilona Jerger, die es mit viel Witz und Sachkenntnis beschreibt, hat es für ihren Roman erfunden. Der echte Darwin und der echte Marx kannten sich zwar, haben sich aber persönlich nie getroffen. Marx war von Darwins "On the Origin of Species" (1859) begeistert, in dem dieser die Grundlagen der Evolutionsbiologie legte. Denn der von Darwin vorgeschlagene Mechanismus kam ohne göttlichen Eingriff aus und schien Marx’ eigene materialistische Weltsicht zu untermauern. Von der menschlichen Gesellschaft nahm der Philosoph und Ökonom an, auch diese entwickle sich quasi naturgesetzlich – wenn auch nicht evolutionär, sondern revolutionär im Rahmen des Klassenkampfs. Marx befand sich seit 1849 im Londoner Exil und schickte Darwin sein "Kapital" (1867) zu. Allerdings las dieser nur die ersten paar Seiten.
In dem Roman erschafft Jerger zunächst die fiktive Figur des Arztes Dr. Beckett – als Bindeglied zwischen Darwin und Marx, welche uns im Jahr 1881 der Erzählung als alt und krank entgegentreten. Darwin greift schon seit Jahren auf Becketts Dienste zurück, während Marx durch Vermittlung seines Freunds Friedrich Engels (1820-1895) an den Arzt kommt. In dem Buch führt Beckett zahlreiche Gespräche mit den beiden Protagonisten sowie mit Personen ihres Umfeldes, wobei die Leser viel über deren Familienverhältnisse erfahren – etwa über Marx’ unehelichen Sohn mit seiner Haushälterin Helena "Lenchen" Demuth (1820-1890). Diesen gab es tatsächlich.
Beckett tendiert ebenfalls zum Materialismus und versucht, ein Treffen zwischen Darwin und Marx zu arrangieren. Als Leser fragt man sich hier, ob ein realer Beckett das wirklich gewagt hätte, da er an seine ärztliche Schweigepflicht gebunden gewesen wäre. Jerger läßt es ihm auch nicht gelingen. Stattdessen bahnt ein Telegramm Edward Avelings das Dinner an, in dem der Zoologe gemeinsam mit Ludwig Büchner um ein Treffen mit Darwin bittet. Der Naturforscher stimmt zu und kommt dabei auch Avenlings Bitte nach, seinen nicht namentlich genannten Schwiegervater, einen Bewunderer des darwinschen Werkes, mit einzuladen. Dieser ist niemand anderes als Karl Marx.
Glaube und Empirie
Der Roman spielt zu einer Zeit, in der die Entfremdung zwischen Naturwissenschaften und Theologie bereits fortgeschritten war, und thematisiert den daraus resultierenden weltanschaulichen Konflikt. Ist für eine Evolution, die ungerichtet verläuft, aber durch natürliche Auslese geprägt wird, überhaupt noch ein Gott nötig? Ist nicht wenigstens der Mensch ein durch göttlichen Eingriff erschaffenes Wesen? Verläuft die Menschheitsgeschichte ebenfalls naturgesetzlich? Ist Religion nur "Opium für das Volk", um den unterdrückten Klassen die Hoffnung auf ein jenseitiges Paradies zu geben und sie davon abzuhalten, dieses schon im Diesseits zu verwirklichen? Es gelingt der Autorin, diese Fragen stimmig in den Erzählstrang einzuarbeiten.
Ihren Protagonisten widmet sich Jerger mit großem Einfühlungsvermögen. Zwar zeichnet sie Darwin und Marx gegen Ende deren Lebens als hinfällig, aber zugleich sehr lebendig – dank der vielen recherchierten Details, des feinen Humors, der geschilderten persönlichen Marotten sowie des flüssigen Schreibstils. Zudem wird die Zerrissenheit der Protagonisten deutlich, die sie auch im realen Leben begleitete. Dem studierten Theologen Darwin machte der Vorwurf des "Gottesmörders" zu schaffen. Marx wiederum, der unter dem Exil litt, stammte aus einer jüdischen, später zum Christentum konvertierten Familie, womit die Religion auch in seinem Leben eine ambivalente Rolle spielte. Auch wird im Buch die Frage gestellt, ob er nicht versuchte, die eschatologische Erwartung eines Paradieses ins Diesseits zu übertragen. Von beiden ist bekannt, dass sie sich mit ihren Theorien missverstanden fühlten: Während sich Darwin gegen seine politische Vereinnahmung wehrte, sträubte sich Marx gegen Sozialdemokraten und Reformer.
Das Buch richtet sich an Leser, die den Menschen hinter den großen Namen Darwin und Marx näher kommen möchten und als Zugang dazu der Form des historischen Romans nicht abgeneigt sind. Das Werk regt die Leser dazu an, sich mit dem im Grunde bis heute ungelösten Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion auseinanderzusetzen.
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