Botschafter einer alten Welt
Vor rund 12 000 Jahren verbreitete sich der sesshafte Lebensstil. Damit begann die Geschichte der großen Kahlschläge des Landes, und damit beginnt auch das vorliegende Buch. Der Umweltschützer und Naturfotograf Matthias Schickhofer nimmt seine Leser mit auf eine Zeitrafferreise durch die Geschichte der europäischen Wälder. Über Pioniergehölze wie Birke, Kiefer, Ulme und Erle tastet er sich an den natürlichen Eichenmischwald heran und kommt schließlich auf den "neuen Wald" zu sprechen, womit er den allgegenwärtigen Nadelbaumforst meint. Der ist, anders als die hiesigen Urwälder, von Instabilität geprägt: Borkenkäferplagen und Stürme verursachen in ihm verheerende Schäden, und zwar mit zunehmender Häufigkeit.
Dass diese Entwicklung keine gute ist, darauf kommt Schickhofer schon früh zu sprechen und positioniert sich damit politisch und wirtschaftskritisch. Er warnt vor dem "Biomasseboom", der gefährliche Kippeffekte in der Erderwärmung auslösen könne, und führt illegale Rodungen in den letzten Urwäldern Mittelosteuropas, vor allem in Rumänien und der Westukraine, auf Korruption zurück.
Riesige Gehölzverluste
Schickhofer macht anhand von Zahlen und Fakten deutlich, dass der Schutz der europäischen Urwälder stärker in den Fokus rücken sollte. Seine Erörterungen sind aufschlussreich, sieht man einmal davon ab, dass weltweit zwischen 2000 und 2013 natürlich nicht "ganze 230 Millionen Quadratkilometer an Wald" ausgelöscht worden sind, wie es im Buch heißt. Da die gesamte Landfläche der Erde nur rund 150 Millionen Quadratkilometer beträgt, kann der Autor hier nur Hektar meinen, wie auch der weitere Kontext vermuten lässt.
Fest steht, dass mit dem Waldschwund zahllose Tier- und Pflanzenarten verloren gehen. Schickhofer möchte darauf aufmerksam machen und spricht die Probleme an, ohne jedoch allzu sehr in die Tiefe zu gehen. Stattdessen versucht er die Leser emotional abzuholen. Seine fantastischen Fotos zeigen märchenhafte Waldwelten, die faszinieren, neugierig machen und Sehnsüchte auslösen. Der Autor fördert das, indem er in seinen Texten beinahe poetische Töne anschlägt: "Im Wald wachen riesenhafte Buchen über grünen Hallen, in Auslichtungen wachsen die jungen Buchen um die Wette."
Immer wieder sind Fakten eingestreut wie wissenschaftliche Namen, Bestandszahlen, Hektarangaben und Auszüge aus Studien. Besonders reizvoll ist, dass der Autor klar benennt, wo heute noch Rotbuchen-, Fichten- und andere Wälder in weitgehend urwüchsiger Form zu finden sind. Wenn er davon berichtet, was er an diesen Orten erlebte, nimmt das mitunter reportageähnlichen Charakter an. Schickhofer präsentiert Links zu Internetseiten, auf denen man mehr über die europäischen Urwälder erfährt. Er hat dort nicht nur Baumriesen abgelichtet, sondern auch eher unscheinbare Organismen, die kaum noch jemand leibhaftig kennt: Leberblümchen, Zunderschwämme, Feuersalamander oder Tausendfüßer.
In dem hochwertig verarbeiteten Buch lösen sich Texte und Bilder in dichter Folge ab. Die Sprache ist für jeden verständlich und nicht mit Fakten überladen. Hier und da wünscht man sich mehr Ausführlichkeit; manchen Orten widmet der Autor nur eine Drittelseite. Dennoch bietet das Werk eine sinnlich anregende und erfreuende Lektüre. Wen beim Lesen die Abenteuerlust packt, der findet im Kapitel "Verwunschene Wege" viele Reiseziele, -tipps und Adressen für eigene Expeditionen, zum Beispiel in den Uholka-Urwald der Ukraine. Ein lohnendes und farbenfrohes Werk, das Einblicke in die letzten Wildnisgebiete Europas gewährt.
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