1200 Jahre auf 300 Seiten
Ist die Geschichte Deutschlands zugleich auch die der Deutschen? Viele würden wohl intuitiv mit Ja antworten. Doch genau betrachtet ist der Zusammenhang zwischen territorialer beziehungsweise politischer Existenz und nationaler Identität alles andere als klar. So wissen wir kaum etwas darüber, wie sich die »gewöhnlichen Menschen« im Mittelalter selbst sahen und womit sie sich identifizierten. Das Selbstverständnis der politischen Eliten jedenfalls kann bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht wirklich als »deutsch« bezeichnet werden. Die Kaiser beispielsweise sahen sich lange Zeit eher als Erben Roms; manch einer verbrachte während seiner Regentschaft überhaupt keine Zeit auf deutschem Territorium. Die Fürsten wiederum hatten ihre jeweiligen regionalen Interessen; der Zusammenschluss unter einem gemeinsamen Herrscher bot ihnen in erster Linie politische und militärische Vorteile und war, wenn überhaupt, dann nur sehr nachrangig Ausdruck eines »Deutschseins«.
Erst als im 15. Jahrhundert die Macht des Hochadels verstärkt in Gefahr geriet – wegen Konflikten mit Franzosen, Türken und dem Heiligen Stuhl – entdeckten die Mächtigen »deutsch« als einigendes Attribut. Aus dem »Heiligen Römischen Reich« wurde nun das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«. Doch es sollten noch weitere Jahrhunderte vergehen, bis im 19. Jahrhundert – inspiriert von der Französischen Revolution – auch Intellektuelle, vor allem Studenten, damit begannen, sich eine nationale deutsche Identität zuzuweisen.
Zwei Bücher in einem
All das geht deutlich aus diesem Buch hervor, in dem der englische Historiker Joachim Whaley und der französische Geschichtswissenschaftler Johann Chapoutot die verschiedenen Herrschaftssysteme Deutschlands und ihre Protagonisten skizzieren – vom frühen Mittelalter bis heute. Der Band ist in zwei etwa gleich starke Teile untergliedert: »800 bis 1806« aus der Feder Whaleys und »1806 bis heute« von Chapoutot. Eine originelle Idee: Die Teile folgen nicht linear aufeinander, sondern der zweite ist von hinten nach vorn und von oben nach unten gedreht. Indem man das Buch wendet, kann man ihn also beim hinteren Buchdeckel beginnend lesen. Das erleichtert das Hineinblättern.
Whaley beginnt seinen Abschnitt mit einem Ritt durch die mittelalterlichen Wahlmonarchien. Die damaligen Kaiser lagen in ständigem Machtkampf mit den selbstbewussten Kurfürsten und dem mächtigen Papst. Ihr Erfolg in diesem Gerangel bestimmte darüber, inwieweit sie als Führungspersönlichkeiten anerkannt wurden. Diese eigenartige Staatsform sorgte vor allem bei den französischen Nachbarn für einigen Spott. Allerdings sind hier wohl die Wurzeln des deutschen Föderalismus zu suchen, wie er heute noch besteht, zeigt Whaley überzeugend auf. Vermutlich liegt hier sogar der Grund, warum alle Bestrebungen, Deutschland zentral zu regieren, bislang fürchterlich scheiterten und unter anderem in die beiden größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts mündeten, den ersten und zweiten Weltkrieg.
Whaleys Abhandlung ist eine Übersetzung des Buchs »The Holy Roman Empire: A Very Short Introduction«, das in diesem Jahr bei Oxford University Press erscheint. Tatsächlich kann der Autor auf den zirka 150 Seiten nur eine sehr kurze Einführung in die tausendjährige Geschichte des Heiligen Römischen Reichs geben. Nichtsdestoweniger bieten diese Seiten einen fundierten Rückblick auf die turbulente Entstehungsgeschichte des föderalen deutschen Staatswesens, das historisch eng mit dem Selbstbewusstsein der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fürsten verbunden ist.
Napoleon als Treiber des Nationalismus
Auch Chapoutots Beitrag, der den zweiten Teil des Bands ausmacht, ist eine Übersetzung – in diesem Fall des Essays »Histoire de l'Allemagne«, erschienen 2014 bei Presses Universitaires de France. Auf ebenfalls etwa 150 Seiten schildert der Autor den holprigen Weg vom frühen 19. Jahrhundert zu Deutschlands heutiger Demokratie. Seine Erzählung beginnt mit dem Expansionsstreben Napoleon Bonapartes, das Europa zu einer Neuordnung zwang. Die napoleonischen Kriege förderten antimonarchistische und nationalistische Bewegungen in der deutschen Bevölkerung. Mit der Gründung des föderalen »Rheinbunds« schließlich schaffte der französische Kaiser eine Pufferzone zu Preußen und Österreich, was schließlich dazu führte, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zerbrach.
Chapoutot führt seine Leser weiter durch die darauf folgende Restauration, die anschließende Märzrevolution und ihre Niederschlagung durch das preußische Militär, die dem Königreich Preußen die Vorherrschaft sicherte. Bis zum Ende des ersten Weltkriegs regierten preußische Kaiser das Land. Auf die Weimarer Republik und vor allem auf den Nationalsozialismus geht Chapoutot nur kurz ein; er versucht hier vor allem zu zu analysieren, wie sich diese Zeit auf die deutsche Identität und die Politik der Nachkriegszeit auswirkte. Chapoutot betont die Entwicklung hin zu »einer freiheitlichen Demokratie im besten politischen Wortsinn, um die Frankreich die Deutschen nur beneiden kann«.
Alles in allem gelingt es den beiden Autoren, die deutsche Historie kurz zu skizzieren. Allerdings: 1200 Jahre Geschichte auf zirka 300 Seiten zu komprimieren, ist ein ambitioniertes Unterfangen, und das Ergebnis macht es den Lesern nicht immer ganz leicht. Das gilt vor allem für die älteren Epochen. Whaley hat sein Bestes getan, um die Zeit zwischen 800 und 1806 auf 153 Seiten zusammenzufassen. Doch er kann kaum verhindern, dass die kompakte Abfolge von Karls, Ottos und Heinrichs für Verwirrung sorgt. Andererseits kommt so sehr deutlich heraus, wie sich die Machtkonstellationen zwischen Kaiser, Kurfürsten und Papsttum permanent änderten und welche politische Dynamik innerhalb des Reichs daraus erwuchs. Mehr Bilder und Karten hätten sicherlich dazu beigetragen, den Stoff anschaulicher zu vermitteln. Chapoutot hatte es da etwas einfacher. Zum einen, weil er für die 212 Jahre, die er beschreibt, ungefähr genauso viel Platz hatte wie Whaley. Zum anderen, weil den meisten Lesern dieser Zeitabschnitt vertrauter sein dürfte.
Empfehlen lässt sich der Band vor allem Menschen, die ihren geschichtlichen Überblick auffrischen wollen. Wer sich aber gezielt für bestimmte Zeitabschnitte interessiert, sollte zu anderen Werken greifen.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben