Der aufgeschobene Tod
Medizinisch betrachtet sterben Menschen die meiste Zeit ihres Lebens. Allmählich verschleißen die Zellen des Körpers, bis am Ende wichtige Organe versagen. Herz und Kreislauf kommen zur Ruhe, das Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, der Hirntod tritt ein. Falls der Sterbende intensivmedizinische Behandlung erfahren hat, werden nun die technischen Geräte abgestellt. Eventuell entnehmen die Mediziner Organe, die das Leben anderer Patienten verlängern.
Leben und Sterben des Menschen, einst das Natürlichste auf der Welt, unterliegen längst dem Einfluss der Technik. Weltweit wächst die mittlere Lebenserwartung. Gibt es eine prinzipielle Grenze dieser Entwicklung – oder werden unsere Nachkommen irgendwann endgültig Unsterblichkeit erlangen?
Die ewige Verheißung des Lebens nach dem Tod
Solchen Fragen stellt sich dieser interdisziplinäre Sammelband, erschienen in einem kleinen Verlag, der sonst eher schöne Bildbände herausbringt. Die Beiträge stammen von Medizinern, Juristen, Theologen, Historikern und Kulturwissenschaftlern. Damit bringt das Werk die Lebensverlängerung in einen facettenreichen kulturellen Zusammenhang.
Seit jeher, so geht es aus dem Buch hervor, versuchten die Religionen den Hinterbliebenen Trost zu spenden, indem sie ein Weiterleben nach dem Tod versprachen. Im alten Ägypten wurden die Herrscher mumifiziert und mit Grabbeigaben für die Reise ins Jenseits gerüstet. Christen glauben an eine unsterbliche Seele und hoffen auf die körperliche Wiederauferstehung beim Jüngsten Gericht. Gemäß fernöstlichen Religionen wiederum nimmt die Unsterblichkeit die Form einer endlosen Kette von Reinkarnationen an.
Vor allem im 20. Jahrhundert, nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, sträubten sich atheistische und existenzialistische Strömungen gegen jegliche Form religiöser Tröstung. Die Endlichkeit unseres Daseins wurde als dessen Wesenskern begriffen, der Tod zu einem Sinn stiftenden Teil des Lebens erklärt, wie Anna-Katharina Gisbertz darlegt; sie lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim. Beispielhaft zitiert sie den Roman »Alle Menschen sind sterblich« von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1946. Die durch einen Zaubertrank unsterbliche Hauptfigur wünscht sich nach einer jahrhundertelangen Irrfahrt durch die europäische Geschichte nur noch, in Frieden zu sterben.
Unterdessen verfolgt die Heilkunst das Ziel, möglichst vielen Menschen ein möglichst langes und gesundes Leben zu gewährleisten. Alle noch so großen Erfolge der medizinische Forschung stoßen freilich an biologische Grenzen: Im betagten Organismus häufen sich die Fehler der Zellreplikation, und die physiologischen Reparaturmechanismen erlahmen. Bekannt ist zudem, welche molekularen Mechanismen dahinterstecken und wie insbesondere die Stammzellforschung die regenerativen Potenzen des menschlichen Organismus mobilisiert.
Als letzten, utopischen Ausweg malen sich manche Spekulationen ein Umspeichern des biologischen Substrats in gigantische Datenbanken aus, was eine Art digitale Unsterblichkeit garantieren soll. Diese »transhumanistische« Perspektive wird im vorliegenden Band allerdings nicht diskutiert.
Insgesamt geht das reich bebilderte Buch auf überraschend viele Aspekte ein. Es beleuchtet das Thema Unsterblichkeit zwischen Traum und Trauma so aus zahlreichen Perspektiven. Wollte man ein Fazit ziehen, könnte es lauten: lieber ein erfülltes endliches Dasein als eine fade Unsterblichkeit. Wie sagt der Vulkanier Spock vom Raumschiff Enterprise: Lebe lang und erfolgreich!
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