»Unter Verrückten sagt man du«: Die Eugenik des Vorurteils
Viele Formen von Gewalt, die früher gesellschaftlich opportun und legal waren, verstoßen mittlerweile gegen Gesetze, etwa die Anwendung von Gewalt gegen Kinder und Frauen. In der Psychiatrie aber darf Gewalt weiterhin eingesetzt werden. Juristisch gesehen befinden sich Menschen mit psychischen Problemen damit in einer ähnlichen Situation wie Straftäter: Gegen diese darf die Polizei Gewalt einsetzen, gegen jene dürfen dies das psychiatrische Personal und die Polizei.
Lea De Gregorio schreibt als Betroffene, die sich mehrfach stationär behandeln ließ und der man zumeist eine Psychose attestierte. Die zahlreichen Diagnosen, die sie erhielt, erscheinen ihr im Nachhinein häufig willkürlich. Sie hat den Eindruck, dass sie primär die jeweilige Behandlung rechtfertigen sollten, die sie häufig als massiven Druck empfand. Sie fragt: »Woher kommt die Vorstellung, Menschen zu heilen, indem man sie beherrscht?« Dabei geht es ihr nicht nur um eine Kritik der psychiatrischen Praxis, unter der sie selbst zu leiden hatte und die sie mitunter durchaus verständnisvoll beschreibt. Sie kritisiert auch nicht vorrangig das Wissenschaftsverständnis, das ihr zugrunde liegt. Ihr geht es nicht zuletzt darum zu zeigen, wie psychisches Leiden in der Gesellschaft diskriminiert wird. Allein schon die einschlägige Diagnose stigmatisiere, so die Autorin: Betroffene würden die mit ihr verbundene Beurteilung häufig ein Leben lang nicht los und versteckten ihr Leiden daher ängstlich vor ihrer Umwelt. Insofern weitet das Buch den Blick hin auf eine unschöne Form sozialer Ignoranz.
Wenn selbst die Angehörigen sich wegducken
So erfahren die Euthanasieopfer der NS-Diktatur, die entweder sterilisiert oder ermordet wurden, bis heute nicht die Anerkennung, die anderen Opfern des Dritten Reichs gewährt wurde, beklagt De Gregorio. Und vor allem haben sie noch keine Entschädigung erhalten. Bis heute vertreten zahlreiche Experten die Auffassung, dass die damaligen Diagnosen wissenschaftlich begründet gewesen seien.
Initiativen bemühen sich darum, wenigstens die Namen dieser Opfer bekannt zu machen. Das stoße, so die Autorin, häufig auf den Widerstand von deren Familien, die nicht, und schon gar nicht öffentlich, mit psychischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden möchten. Denn einen »Verrückten«, wie De Gregorio sie liebevoll bezeichnet, möchten viele Familien offenbar nicht in ihren Reihen haben. Oft werde befürchtet, dass die Nachbarn das nicht goutieren könnten. Was De Gregorio nicht erwähnt: Auch Versicherungen bereiten den Verwandten manchmal Schwierigkeiten, wenn sie von psychischen Problemen innerhalb der Familie erfahren. Generell beklagt die Autorin, »wie sich Diskriminierung und eugenische Vorstellungen in der Gesellschaft halten.«
Bei allem Verständnis, das De Gregorio für die Menschen aufbringt, die in der Psychiatrie arbeiten: Sie zeichnet dennoch ein eher bedrückendes Bild der Einrichtungen. So sehen sich die Betroffenen einem Apparat gegenüber, der sich kaum darum bemühe, die Probleme zu verstehen, die ihre psychischen Schwierigkeiten ausgelöst haben könnten. Stattdessen würden die mit Medikamenten Menschen ruhiggestellt. Wer sich wehre, die Maßnahmen gar hinterfrage, dem würden Vergünstigungen entzogen wie Ausgang, Besuch et cetera.
Dabei bewegen sich psychiatrische Diagnosen oft auf dünnem Eis. De Gregorio zitiert dazu neueste Fachliteratur und stellt kritische Fragen wie »Welche biologische Basis haben diese Erkrankungen?« oder »Handelt es sich wirklich um Erkrankungen des Gehirns?«. Würde anerkannt, dass manche Krankheitsbilder immer noch den Status von Hypothesen besitzen, also keineswegs als wissenschaftlich belegt gelten können, hätte das nicht zuletzt Konsequenzen mit Blick auf die Medikation, die bei Betroffenen häufig über sehr lange Zeiträume durchgeführt werde und den Herstellern viel Geld einbringe. So fragt De Gregorio, »was es uns Verrückten hilft und wohin das führt, wenn man Bilder auf Hirnscannern sieht oder entsprechende Gene oder Genkombinationen findet, [. . .] schließlich ist damit noch immer nicht geklärt, warum [solche Erkrankungen] in einer bestimmten Situation auftreten, geschweige denn, dass man dadurch versteht, weshalb diese oder jene Gedanken während der Zustände vorkommen.«
Das betreuende Personal gehe auch in seiner Kommunikation keineswegs immer rücksichtsvoll mit den Betroffenen um. So erklärte eine Ärztin der Autorin, dass sie ein Studium nicht schaffen könne. Aber: Sie hat es geschafft und arbeitet heute erfolgreich als Journalistin. Einer ebenfalls betroffenen Freundin freilich wurde von den medizinisch Verantwortlichen ausgeredet zu studieren – der Befürchtung folgend, sie könnte dabei scheitern und dann einen Rückfall erleiden.
Das lesenswerte Buch erhellt den unzulänglichen Umgang mit psychischen Problemen und ist damit sicher keine leichte Unterhaltung, aber horizonterweiternd. Sehr empfehlenswert.
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