Schwanengesang eines Imperiums
Mehr als 600 Jahre lang, von der Gründung durch den anatolischen Nomadenfürsten Osman am Ende des 13. Jahrhunderts bis zur Abdankung von Mehmed VI. im November 1922, herrschten osmanische Sultane über das größte islamische Reich der Welt, das sich zeitweise von Ungarn bis Ägypten und vom Persischen Golf bis zur Ägäis erstreckte.
Koloss auf tönernen Füßen
Eugen Rogan, Direktor des Middle East Centre der University of Oxford, erzählt in seinem fesselnden Buch die Geschichte der letzten Jahre des multiethnischen Vielvölkerreichs, dessen Untergang die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Friedensvertrag von Sèvres (1920) einläuteten.
Rogan schreibt aus Perspektive des Osmanischen Reichs und stützt sich dabei größtenteils auf osmanische und arabische Quellen. Er geht den Ursachen des Niedergangs auf den Grund und schildert anschaulich, wie das Reich der Sultane zwischen den Ambitionen europäischer Mächte und den nationalen Freiheitsbewegungen der beherrschten Völker zerrieben wurde. Unfähig, das schwerfällige Staatengebilde politisch zu reformieren und mit der Modernisierung der europäischen Großmächte Schritt zu halten, war der »Kranke Mann am Bosporus« nur noch ein Koloss auf tönernen Füßen, als er 1914 an der Seite der Mittelmächte in den Krieg eintrat.
»Der Untergang des Osmanischen Reichs« ist eine komplexe Geschichte, denn das muslimische Imperium führte einen Krieg an mehreren Fronten: gegen die Russen in Ostanatolien und auf dem Balkan, gegen die britisch-indische Armee im Irak, die britisch-ägyptische Armee in Palästina, gegen Italien in Libyen und gegen die von Frankreich und England zum Aufstand ermunterten Araber.
Neben der politischen Chronologie mit den wichtigsten Ereignissen (der Kriegseintritt an der Seite der Mittelmächte Deutschland und Österreich, Gallipoli, arabischer Aufstand unter dem Scherifen Hussein und dem britischen Geheimdienstmitarbeiter T.E. Lawrence, Invasion Mesopotamiens, territoriale Neuordnung des Orients) zeigt Rogan die Konfliktlinien zwischen den Kriegsgegnern auf: der Konflikt mit dem Zarenreich, das sich als Schutzmacht des orthodoxen Christentums und der Slawen auf dem Balkan betrachtete, und die Spannungen mit den Briten in Ägypten und in Mesopotamien.
Der Verfasser schöpft aus einem reichen Quellenfundus, den er auf der Mikro- und Makroebene souverän beleuchtet. So erfährt der Leser etwa von einem »Dschihad-Büro« in Berlin, von dem aus muslimische Revolten in Französisch-Nordafrika und in Britisch-Indien koordiniert werden sollten, um den religiösen Fanatismus gegen die Entente zu mobilisieren; von einem deutschen Gefangenenlager, »Halbmondlager« genannt, in dem man muslimische Kriegsgefangene im Westen als Freiwillige für den Kriegseinsatz der Osmanen im Nahen Osten rekrutierte; von ultranationalistischen jungtürkischen Offizieren, die, von deutschen U-Booten versorgt, zusammen mit libyschen Beduinenstämmen einen Guerillakrieg gegen die italienischen Besatzer führten.
Rogan versteht es meisterhaft, tagespolitische Ereignisse in den historischen Entwicklungen widerzuspiegeln. Mit dem islamischen Dschihad, der Gründung Israels, dem Völkermord an den Armeniern, der willkürlichen Neuordnung des Nahen Ostens durch die Mandatsmächte England und Frankreich sowie der Kurdenfrage greift er Themen auf, die bis in die Gegenwart hineinwirken.
»Der Untergang des Osmanischen Reichs« präsentiert narrative Geschichtsschreibung in bester angelsächsischer Manier. Hoher analytischer Sachverstand, historischer Scharfsinn und stilistische Brillanz prägen Rogans Ausführungen, die dem Leser einen neuen Blick auf die Transformation des Nahen Ostens nach dem Ersten Weltkrieg und die Entstehung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk seit 1923 eröffnen.
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