Kinder unseres Planeten
Im Jahr 1994 wurde der Ort Sefidabeh im Iran vollständig durch ein Erdbeben zerstört. Die kleine Wüstenstadt liegt sehr abgelegen und ist die einzige Ortschaft im Umkreis von 100 Kilometern. Wieso traf die Katastrophe ausgerechnet diese Siedlung mit anscheinend höchster Präzision? Wie der Astrobiologe Lewis Darntell in seinem äußerst lesenswerten Buch schreibt, ist die Ursache dafür im Untergrund zu suchen.
Tief in der Erdhülle entstehen durch Verwerfungen, die an der Oberfläche nicht sichtbar sind, gewaltige Spannungen, die sich im Fall von Sefidabehs zunächst als Segen und später als Fluch erwiesen. Sie machten eine Ansiedlung überhaupt erst möglich, weil das tektonische Geschehen nur an diesem Ort inmitten der Wüste dauerhaft Quellen speiste. Das Wasser lockte die Menschen an. Eben jene Spannungen führten dann aber auch in die Katastrophe, als sie sich in dem Erdbeben entluden.
Natur- und Kulturgeschichte
Der traurige Fall von Sefidabeh ist einer von vielen, die Dartnell in seinem Werk behandelt. Fundiert legt er dar, wie untrennbar eng die Geschichte der Menschheit im Guten wie im Schlechten mit geologischen Vorgängen verbunden ist. Ob die Bewegung der Landmassen Gebirge in die Höhe schob, langfristig das Klima umkrempelte oder anderweitig das Gesicht der Erde veränderte: Immer reagierten auch die Menschen in ihrer Evolution, Ausbreitung und Kultur darauf.
»Wir sind Kinder der Plattentektonik«, resümiert Dartnell und spannt einen großen Bogen auf, beginnend mit der Geburt des Planeten. Obwohl er sich zuweilen in technischen Details verliert, skizziert er gekonnt die großen Entwicklungen und ihre gegenseitigen Verflechtungen, darunter die Plattentektonik, die Domestikation wichtiger Tier- und Pflanzenarten, die Bedeutung der Meere oder verschiedener Rohstoffe für den Menschen.
Der Autor fokussiert auf neuralgische Punkte der Menschheitsgeschichte – und präsentiert höchst originelle Thesen dazu. Die Entstehung der ersten Demokratie im antiken Griechenland? Dazu habe sicher die zerklüftete Landschaft beigetragen, die alle selbstständigen Stadtstaaten voneinander getrennt hielt und verhinderte, dass einer davon die Vorherrschaft errang. »Als ein Ergebnis kam eine Welt vieler unabhängiger Stadtstaaten mit gemeinsamer Kultur und Sprache dabei heraus, die jedoch zugleich in einem sich fortwährend wandelnden Muster von Allianzen und Konflikten miteinander konkurrierten«, schreibt der Astrobiologe. Das unwegsame Gelände sei nicht geeignet gewesen für weiträumige Schlachten mit Streitwagen oder Reiterei, daher seien die griechischen Heere häufig von Infanterie geprägt gewesen, die sich aus »gewöhnlichen« Bürgern statt Angehörigen einer elitären Kaste zusammensetzte.
Wie eng wir mit geologischen Vorgängen verflochten sind, zeigt sich auch heute noch an vielen überraschenden Zusammenhängen. Dartnell verweist unter anderem auf den »Schwarzen Gürtel« in den USA. Das ist ein schmaler Grat, der sich im Südosten mitten durch ein Gebiet zieht, in dem die Partei der Republikaner bei Wahlen traditionell die Mehrheit erringt. Im »Black Belt« dagegen haben die politischen Gegner die Nase vorn – ein Muster, das sich laut Dartnell bis zum Bürgerkrieg zurückverfolgen lässt.
Wie kommt es dazu? Des Rätsels Lösung findet sich auch hier in der Dynamik des Erdsystems, denn der Grat besteht aus Ablagerungen, die ein längst verschwundenes Meer hinterlassen hat. Es ist besonders fruchtbarer Boden, auf dem vor allem Baumwolle angepflanzt wurde, eine außerordentlich arbeitsintensive Nutzpflanze. Ab dem 18. Jahrhundert wurden für eben diese Feldarbeiten in den Südstaaten schwarze Sklaven eingesetzt. Deren Nachfahren bilden mittlerweile die Mehrheit im »Black Belt«, dessen Name schon lange nicht mehr für den dunklen Boden, sondern für die jetzt dominierenden Bevölkerungsgruppen steht. Ein Umstand, der die Gegend nach dem Zweiten Weltkrieg zur Hochburg der Bürgerrechtsbewegung machte und heute der demokratischen Partei Mehrheiten verschafft. Es ist eine politische Präferenz, die auf dem viele Millionen Jahre alten Schlick eines vorzeitlichen Meeres basiert.
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