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»Verkannt, verfemt, vergessen«: Große Unbekannte der Mathematik

Wie viele große Leistungen der Mathematik bisher noch nicht angemessen gewürdigt wurden, macht Heinz Klaus Strick mit seinen biografischen Porträts erlebbar.

Es sind nicht die großen Namen der Mathematikgeschichte, die der Verfasser bei der Auswahl der in seinem Buch vorgestellten Personen im Blick hatte. Ihm geht es um »wenig bekannte, vergessene, verkannte und diskriminierte Persönlichkeiten«. Strick stellt ihre jeweiligen Lebensläufe mit ihren markanten Daten und Abschnitten vor und beschreibt ihre wichtigsten Entdeckungen und Arbeiten. Wer den Mathematischen Monatskalender bei Spektrum der Wissenschaft regelmäßig verfolgt, dürfte einige der Namen wiedererkennen.

Wie liest man ein solches Buch? Vermutlich beginnt man nicht mit Seite 1 und liest dann kontinuierlich weiter bis zum Ende, sondern wird gezielt auswählen. Ich habe beim Lesen für diese Rezension mit Galois begonnen, dessen kurzer Lebenslauf und dessen Leistungen mir gut bekannt sind. Strick stellt ihn in einem Kapitel vor, das er mit »… ihrer Zeit voraus« überschrieben hat. Er fasst dessen schon mit 20 Jahren so tragisch beendetes Leben knapp zusammen. Die von Galois nur in Ansätzen entwickelte Mathematik zur Lösbarkeit von Gleichungen wird wegen ihrer Komplexität auch heute noch erst in Vorlesungen für höhere Semester behandelt. Da der Verfasser im Vorwort versichert, »in diesem Buch werden also keine mathematischen Anforderungen gestellt, die deutlich über das an der Schule erreichbare Niveau hinausgehen«, ist es klar, dass die Überlegungen von Galois nur angedeutet werden können. Dabei wird der grundlegende Begriff der »Gruppe« definiert und am Beispiel von Permutationsgruppen konkretisiert. Will der Leser dann mehr über den Fundamentalsatz der Algebra und die Lösbarkeit von Polynomgleichungen erfahren, wird er auf die Abschnitte zu Abel, Ruffini und Girard verwiesen, von denen der Letzte am wenigsten bekannt sein dürfte.

Unbekannte Heldinnen der Mathematik

Im Inhaltsverzeichnis fällt mein Blick auf den Namen »Goldbach«, der wohl auch Kennern der Materie nur durch jene bis heute noch unbewiesene »Goldbachsche Vermutung« vertraut ist, derzufolge jede gerade Zahl, die größer als 2 ist, die Summe zweier Primzahlen ist. Ich erfahre, dass er sich im Austausch mit Euler mit weiteren Fragen der Zahlentheorie beschäftigt hat. Für Strick der Grund, hier auf Fermat- und Mersenne-Zahlen einzugehen. Goldbach findet man im Kapitel über weitgehend vergessene Persönlichkeiten, unter denen Legendre und Möbius (nach dem das geometrische Objekt des verdrehten Bandes benannt ist) vielleicht noch die bekanntesten sind.

Ein weiteres Kapitel ist einer Gruppe von Personen gewidmet, die Strick als »verkannt, ausgeschlossen, ausgegrenzt« kennzeichnet: den Mathematikerinnen. Die erste ist Émilie du Châtelet, deren Name mir unbekannt war. Sie hat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt, war emanzipiert, lebte 15 Jahre mit dem Philosophen Voltaire zusammen und verschaffte sich in Männerkleidung Zutritt zu einem wissenschaftlichen Treffpunkt der Akademie. Der Grund, warum sie von Strick ausgewählt wurde: Sie übersetzte Isaac Newtons Hauptwerk aus dem Lateinischen ins Französische, ergänzte es teilweise und ersetzte die Schreibweise Newtons durch die von Leibniz, die im kontinentalen Europa verbreitet war. Dazu korrespondierte sie mit Johann Bernoulli und Leonhard Euler. Welch außergewöhnlicher Lebenslauf!

Viele der in diesem Kapitel genannten Frauen hatten große Schwierigkeiten anerkannt zu werden, geschweige denn die wissenschaftlichen Positionen einnehmen zu können, die ihnen gebührt hätten. Nur wenige der Namen dürften selbst in Fachkreisen bekannt sein: Nach Maria Agnesi ist eine spezielle Kurve benannt, Ada Lovelace gilt als erster Mensch, der ein Computerprogramm geschrieben hat, und Emmy Noether, die großen Einfluss auf die Entwicklung der modernen abstrakten Algebra hatte, wird von Strick als die »bedeutendste Mathematikerin aller Zeiten« eingeschätzt. Erst mit der Iranerin Maryam Mirzakhani, die leider früh mit nur 40 Jahren im Jahr 2017 verstarb, wurde eine Frau angemessen gewürdigt: Schon in jungen Jahren wurde sie Professorin in Princeton und Stanford. Als erste Frau überhaupt erhielt sie die Fields-Medaille und »wurde zum Vorbild für alle an Mathematik interessierten Frauen«. Ihre Forschungsprojekte über geodätische Linien sind für Strick Anlass, diese anhand einfacher Beispiele mit vielen Abbildungen zu erklären.

Jüdische Mathematiker in Deutschland

»Diskriminiert, verfemt und vertrieben« – so überschreibt der Verfasser das Kapitel über jüdische Mathematiker in Deutschland. Wenn man sich den acht Biografien zuwendet, wird man feststellen, dass Diskriminierung in drei Fällen nicht erst nach 1933 stattfand: Diese »erfolgte nicht durch offizielle Verlautbarungen, sondern durch stillschweigendes Übergehen der Bewerbungen jüdischer Kandidaten«. Zwei, die während des Dritten Reichs Deutschland verlassen mussten, seien hier erwähnt: Otto Toeplitz und Richard Courant. Beide sind bis heute durch ihre Bestseller bekannt (die nach wie vor aufgelegt werden – mehr als 80 Jahre nach ihrem Erstdruck!). »Von Zahlen und Figuren«, von Otto Toeplitz (gemeinsam mit Hans Rademacher) 1930 veröffentlicht, hat auch Strick so beeindruckt, dass er den Inhalt dieses Buchs kapitelweise erläutert. Und »Was ist Mathematik?« von Courant (gemeinsam mit Herbert Robbins) hält er für ein »auch heute noch lesenswertes Buch«.

Das Stichwortverzeichnis enthält rund 300 Namen. Strick betrachtet nämlich die Porträtierten nicht isoliert. Er stellt immer wieder Bezüge zu Zeitgenossen her: zu fördernden Fürsten, zu Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, zu universitären Lehrern und Schülern. Auch erwähnt er die Zusammenarbeit mit wenig bekannten Kollegen ebenso wie mit den Großen des Fachs, etwa Newton, Euler, Gauß oder Hilbert. So entsteht gleichsam ein Netz mit vielfältigen Haupt- und Nebenverbindungen. Darüber hinaus erfährt man Bemerkenswertes über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Wissenschaftscommunity vergangener Jahrhunderte.

Das Buch schließt chronologisch an die Geschichten aus der Mathematik desselben Autors an. Die konkret behandelten mathematischen Themen sind dort wesentlich umfangreicher erläutert als im hier besprochenen Buch. Aufgrund der guten Quellenlage können dafür die biografischen Informationen hier einen viel größeren Raum einnehmen, daher liest sich das Werk flüssiger und verlangt weniger Aufmerksamkeit für mathematische Einzelheiten. Insgesamt ein großartiges Buch, das immer wieder zum Schmökern einlädt.

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