»Verschwörungsdenken«: Gefährliches Misstrauen
Es war ein Terroranschlag unvorstellbaren Ausmaßes, als am 11. September 2001 von Al-Kaida-Terroristen entführte Passagierflugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon rasten. Die vierte Maschine, die den Sommersitz des US-Präsidenten zum Ziel hatte, wurde zum Absturz gebracht. Etwa 3000 Menschen starben bei den Anschlägen. Trotz eindeutiger Faktenlage kursierten bald Verschwörungstheorien zu den Ereignissen: die US-Regierung oder der CIA hätte die Türme des World Trade Center selbst zum Einsturz gebracht oder der wahre Drahtzieher der Anschläge sei der israelische Geheimdienst Mossad.
Die moderne Welt ist reich an Verschwörungstheorien. Die US-Präsidentschaft Donald Trumps und die Corona-Pandemie haben ebenfalls dazu beigetragen. Doch das Phänomen »Fake News« ist bislang nur teilweise verstanden und unterliegt in der gesellschaftspolitischen Realität dynamischen Veränderungen.
In dem von Florian Hessel, Mischa Luy und Pradeep Chakkarath herausgegebenen Sammelband geht es in 16 Aufsätzen um die sozialen und psychologischen Elemente des Verschwörungsdenkens. Der Ansatz ist interdisziplinär: Die 22 Autoren kommen aus den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie, der Soziologie, der Geschichts-, Politik- und Kommunikationswissenschaft sowie der Ethnologie.
Orientierung in unruhigen Zeiten
Einleitend ordnen die Sozialwissenschaftler und -psychologen Hessel, Luy und Chakkarath Verschwörungstheorien – sie sprechen von »Verschwörungskonstrukten« – zwischen Populärkultur und Mobilisierung ein. Diese böten ihren Vertretern zum einen Orientierung in unruhigen, komplexen Zeiten. Zum anderen besäßen sie auch großes Potential für politische Agitation und Verbreitung gewaltlegitimierender Propaganda. Die Autoren werten Verschwörungsdenken sowohl als Symptom, aber auch als Katalysator autoritärer gesellschaftlicher Tendenzen.
Der Psychologe Felix Brauner widmet sich dem Verschwörungsdenken während der Corona-Pandemie. Er argumentiert, dass unsichere Bindungsstile und eine nur gering entwickelte Fähigkeit, mentale Zustände bei sich und anderen wahrnehmen zu können (Mentalisierungsfähigkeit), die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien erhöhen. Auch der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth untersucht in seinem Aufsatz »Argwohn, Misstrauen und Verfolgungsängste« das Verschwörungsdenken während der Corona-Pandemie. Es könne als Abwehrmechanismus gesehen werden. Dabei werde die Angst vor einer Corona-Infektion in eine Angst vor dem Staat und seinen Maßnahmen ausgelagert.
Die Sozialwissenschaftlerinnen Rebekka Blum und Nora Feline Pösl arbeiten die Anschlussfähigkeit des Verschwörungsdenkens an weitere antidemokratische Ideologien heraus, etwa Antifeminismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus oder Ökoesoterik. Demnach haben sich verschiedene Gruppen über die Schnittstelle des Misstrauens gegenüber Medien, Medizin und Politik vernetzt.
Die Medienwissenschaftlerin Deborah Wolf untersucht am Beispiel des Films »The 9/11 Chronicles« des US-amerikanischen Verschwörungstheoretikers Alex Jones Elemente die audiovisuelle Darstellung von Verschwörungsdenken. Thematisiert werden die ästhetische Gestaltung und Montagetechnik sowie Stilmittel wie Überreizung, Ruhe oder eine plakative Darstellung.
Insgesamt bietet der Sammelband ein sehr facettenreiches Bild psychologischer und sozialer Elemente des Verschwörungsdenkens. Im Zentrum stehen immer wieder die inzwischen deutlich vernehmbaren antidemokratischen und extremistischen Tendenzen. Damit greifen die Autoren besorgniserregende zeithistorische Entwicklungen auf. Den Aufsätzen ist jeweils eine umfangreiche Literaturliste angehängt. Das Buch eignet sich sowohl für wissenschaftliche Leserinnen und Leser als auch für interessierte Laien. Vorkenntnisse sollten vorhanden sein.
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