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Alle wollen Vertrauen, aber niemand will vertrauen

Der Philosophieprofessor Martin Hartmann regt zum Nachdenken über gesundes Misstrauen und blindes Vertrauen an.

Wem vertrauen Sie eigentlich? Frau Merkel? Den Lebensmitteln im Supermarkt? Ihrem Partner? Oder der Wissenschaft? Selbst wenn wir das eine oder andere davon spontan bejahen, regen sich Zweifel, sobald man näher darüber nachdenkt …

Martin Hartmann, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Luzern, beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Vertrauen in all seinen Facetten. Sowie mit der inflationären Klage, das Vertrauen der Menschen schwinde.

Nicht erst seit das größte (und zeitweise betrügerischste) Bankhaus Deutschlands ausgerechnet mit dem Slogan »Vertrauen ist der Anfang von allem« warb, wissen wir, das unser Vertrauen stets erwünscht, aber selten gerechtfertigt ist. Hartmann sieht die Forderung danach entsprechend skeptisch. Für ihn ist der Ruf »Hab Vertrauen, denn das ist wichtig« oft bloß Marketing. Und jenen, die vertrauen sollen, dient die Klage, man könne das heute nun wirklich nicht, eher zur Selbstentschuldigung: Ich würde ja so gern vertrauen, nur wem?

Schwäche und Verantwortung zugleich

Hartmann wendet sich gegen das grundpositive Image des Vertrauens. Es bedeutet eben auch Verletzlichkeit, denn es kann von anderen missbraucht und zu ihrem Vorteil genutzt werden. Deshalb wird Vertrauen oft zur Last. Manches Geheimnis eines Freundes möchten wir lieber nicht wissen, aus Angst, es könnte bei uns schlecht aufgehoben sein. Vertrauen ist Schwäche und Verantwortung zugleich. Aber auch eine der schönsten Formen zwischenmenschlicher Nähe.

Hartmanns Buch öffnet dem Leser die Augen dafür, dass es längst nicht überall, wo um Vertrauen geworben oder sein Mangel beklagt wird, um echtes Vertrauen geht; sondern vielmehr um platte Kundenbindung, um Manipulation oder das Abschieben von Verantwortung. Und warum sollten wir Banken, Politikern oder dem Internet überhaupt vertrauen? Sind nicht Skepsis und Kritikvermögen mindestens ebenso wichtig? Wir brauchen ein gesundes Misstrauen gegenüber Unternehmen, Interessengruppen und staatlichen Einrichtungen wie gegenüber unseren Mitmenschen.

Das große Dilemma lautet: Vertrauen gibt es nur da, wo es verletzt werden kann. Mehr noch: Wir liefern die guten Gründe für unser Vertrauen oft erst durch den Akt selbst. Denn der Vertrauenspartner, ob Produktdesigner, Lebenspartner oder Politiker, weiß um den Pakt, den wir mit ihm schließen, und will sich – günstigstenfalls – seiner würdig erweisen. Vertrauen zu spenden, so Hartmann, lässt Vertrauenswürdigkeit entstehen, nicht umgekehrt.

Der Autor engt den Geltungsbereich des Wortes Vertrauen dabei stark ein, vielleicht zu stark. Für ihn ist das Konzept an eine zwischenmenschliche Beziehung gebunden. Dem eigenen Auto oder dem Flugzeug, in dem wir sitzen, ebenso wie behördlichen oder technischen Abläufen vertrauen wir allenfalls in einem »entlehnten Sinn«. Qua den Menschen, die diese Apparate bauten oder für ihr Funktionieren sorgen. In aller Regel kennen wir diejenigen aber gar nicht. Was wir umgangssprachlich vertrauen nennen, hat dann eher die abstrakte Qualität des »sich verlassen auf«.

Vertrauen als Kitt der Gesellschaft?

Hartmann schreibt gedanklich anspruchsvoll, aber nicht ohne Witz – etwa wenn er schildert, wie er bei Interviews bitte schön in 60 Sekunden erklären soll, wie Vertrauen die Gesellschaft zusammenhält. Dabei ist das, wie die knapp 300-seitige Begriffsbestimmung zeigt, alles andere als klar; und selbst wenn, ließe es sich kaum auf eine so knappe Formel bringen.

Im hinteren Teil des Buchs erscheinen manche von Hartmanns Erörterungen leider zögerlich, ohne klares Profil. Häufig zieht er Zwischenfazits mit der Bemerkung »Wenn diese Überlegungen stimmig sind …«, so als zöge der Autor die Möglichkeit seines Irrens gleich mit in Betracht. Aber hätte er dann nicht einfach besser nachdenken oder formulieren sollen?

Solche Signale sind es, die uns im Alltag einerseits zum Vertrauen verlocken; wenn jemand so vorsichtig abwägt, muss es fundiert sein! Andererseits setzen wir solche Signale auch ein, um Vertrauen zu erwerben, der Disclaimer dient womöglich als »rhetorisches Feigenblatt«.

Es gibt letztlich kein Entrinnen vor dem Problem, ein gewisses Maß an Vertrauen spenden zu müssen, es aber nicht blind schenken zu dürfen. Die Gedankenlosigkeit, die mit Vertrauen notwendigerweise einhergeht, nimmt Hartmann philosophisch-selbstironisch aufs Korn. Und das erscheint in unserer Zeit, in der Vertrauen ebenso penetrant gefordert wie unterminiert wird, wichtiger denn je.

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