Faszinierende Welt der Pilze
Weiße Piemont-Trüffel (Tuber magnatum) kosteten zu Beginn der Saison Anfang November 2020 bei einem Händler in München stattliche 3900 Euro pro Kilogramm. Wie man die kostbare Delikatesse findet, früher mit Schweinen, denen man das Maul zuband, heute mit Hunden der Rasse Lagotto Romangnola – und unglaublich viel mehr Fakten über Pilze –, lernt man in dem Buch »Verwobenes Leben« des Biologen Merlin Sheldrake.
Die größten und ältesten Lebewesen
Wissenschaftler behandelten Pilze früher zusammen mit Pflanzen. Erst in den 1960er Jahren erkannte man ihnen den Rang einer eigenen Großgruppe (Mycophyta) zu, die Tieren näher steht als Pflanzen. Ihr Leben führen sie weitgehend im Verborgenen. Experten schätzen, dass man über 90 Prozent der Arten (bis zu 3,8 Millionen) noch gar nicht entdeckt hat. Sie bilden manchmal riesige Netzwerke unter der Erde aus, wodurch sie zu den größten und ältesten Lebewesen der Erde gehören: Hunderte von Tonnen schwer, über zehn Quadratkilometer groß und mehrere tausend Jahre alt.
Aus dem Leben vieler unterschiedlicher Pilze und von ihrer Bedeutung für uns (etwa als Nahrungsmittel, bei der alkoholischen Gärung, als Medikamentenrohstoff, Rauschmittel, Krankheitserreger, Pflanzenschädling oder Bodenverbesserer) erzählt der Autor fast immer aus erster Hand – mal, weil er es selbst erforscht hat oder indem er Kollegen besucht. In anderen Fällen geht er in verschiedene Betriebe, die sich mit teilweise abenteuerlichen Anwendungen aus Pilzmaterialien beschäftigen, etwa der Fertigung von Kunststoffen und Kunstleder.
Falls der Leser, wie ich anfangs auch, an der Wissenschaftlichkeit des Buchs zweifelt, weil der Vater des Autors, Rupert Sheldrake, ein äußerst umstrittener Biologe war, der die von fast allen Naturwissenschaftlern abgelehnte Theorie der »morphischen Felder« entwickelt hat, kann beruhigt sein. Höchstens die überdurchschnittlich umfangreichen Ausführungen über Psilocybin-Pilze, das »Fleisch der Götter«, die Geschichte der Erfindung des LSD und die Installierung des »Havard Psilocybin Project« durch Timothy Leary (1920–1996) in den frühen 1960er Jahren erinnern daran. Der Autor hat einen halluzinogenen Rausch durch Psylocibin kontrolliert an sich selbst durchgeführt und beschreibt die Wirkung seiner »Erweiterung des Bewusstseins« als ein »Fließen im Gehirn«. Im restlichen Buch geht er sachlich auf die spannenden Eigenschaften der interessanten Lebewesen ein.
Häufig assoziiert man mit Pilzen die Fruchtkörper, die auf Wiesen und im Wald herausragen. Tatsächlich entsprechen die Fruchtkörper aber nur einem winzigen Teil, welcher der Vermehrung dient. Das meiste spielt sich jedoch im Untergrund ab. Dort breiten sich mikroskopische dünne, weißliche Fäden – Hyphen – nach allen Richtungen aus und bilden ein äußerst kompliziertes Netzwerk, das Myzel. Mit den Wurzeln fast aller Pflanzenarten gehen sie dabei eine »Lebensgemeinschaft« ein, eine Tatsache, die früher den Forschungsschwerpunkt von Pilzen ausmachte. Aus dem Griechischen »mykes« für Pilz und »rhiza« für Wurzel wird Mykorrhiza. Sheldrake berichtet, was Myzel und Mykorrhiza leisten – und das ist oft geradezu unglaublich.
Zwischen den Fäden fließen elektrische Ströme, und sie transportieren Stoffe – von Pilzen zu Pflanzen oder auch umgekehrt. Dabei wird »kommuniziert«, es werden »Entscheidungen getroffen« und »Lösungen gesucht«. Manche sprechen von einem »Wood Wide Web«. Dadurch entsteht ein schwieriges Forschungsfeld ohne eigenes Vokabular; der Begriff der Symbiose wird beispielsweise unscharf. Denn es ist nicht immer einfach, sorgfältig zwischen Konkurrenz (Darwinismus) und Kooperation zu unterscheiden. Ist etwa eine Birke ohne Mykorrhizapilz konkurrenzschwächer? Gäbe es ohne die Kooperation von Pilzen mit bestimmten Algen überhaupt Flechten?
Da in Pflanzen mehr als 100 Pilze leben können, verschwimmt der Artbegriff bei Pilzen. Einige Experten haben vorgeschlagen, diesen deshalb völlig aufzugeben. Erkenntnistheoretisch wird der Begriff »Individuum« für einen Pilz, der so groß wie Zypern ist, 35 000 Tonnen wiegt und 2000 Jahre alt ist, ebenfalls fraglich. Über allem steht in vielfacher Abwandlung die Frage des ersten Kapitels: »Wie fühlt man sich als Pilz?«
Am Ende des Buchs findet sich ein sehr langer Abschnitt mit Anmerkungen und weiteren Angaben zur zitierten Originalliteratur (bis 2018), dazu ein sehr gutes Register und 40 Seiten Literatur. Das reicht für Jahre weiteren Studiums. Ein wenig bizarr wirken die Danksagungen. Es werden geschätzte 250 Personen genannt, darunter auch die »musikalischen Helfer« Johann Sebastian Bach oder der Jazzpianist Teddy Wilson. Zum Schluss, noch ein wenig exzentrischer, kündigt Sheldrake einen weiteren Selbstversuch an: Er will ein fertig gedrucktes Exemplar des Buchs »etwas anfeuchten und Pleurotus-Myzel hineinsäen«. Wenn der Pilz (ein Austernpilz) aus dem Deckel herauswächst, will der Biologe ihn essen. Das Ergebnis kann man sich tatsächlich auf Youtube ansehen.
Es sei »eines jener seltenen Bücher, die uns verzaubern und den Blick auf unsere Welt verändern«, äußert Helen Macdonald auf der Rückseite des Werks. Ganz so hart hat es mich nicht getroffen. Meine Welt hat es zwar nicht auf den Kopf gestellt, wohl aber mein »Bewusstsein erweitert« und vor allem verdeutlicht, wie wenig ich über Pilze und ihre tatsächliche Bedeutung weiß. In summa: unbedingt lesen!
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