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»Viel Lärm um Achtsamkeit«: Ein Hype auf dem Prüfstand

Jacob Schmidt geht der Achtsamkeit auf den Grund. Sein philosophischer Anspruch fordert dabei von Lesern eine gewisse Ausdauer, die aufzubringen sich aber lohnt.

»Achtsamkeit« ist zu einem geflügelten Wort geworden. Es findet sich in Empfehlungen von Krankenkassen ebenso wie in Resilienzprogrammen großer Firmen oder in medizinischer Literatur. An dieser Beliebigkeit stört sich der Psychologe und Gesellschaftstheoretiker Jacob Schmidt. Er möchte dem Reden und Schreiben über Achtsamkeit einen sachlichen Rahmen geben und so auch dazu beitragen, dass unangemessene Instrumentalisierungen der Grundidee als solche erkennbar werden.

Schmidts Buch beginnt mit einer Anekdote über einen mehrtägigen Achtsamkeitsretreat, an dem er selbst teilgenommen und der ihn nachhaltig beeindruckt hat. Er präsentiert sich dabei keineswegs als unkritischer Anhänger der Achtsamkeitspraxis, sondern berichtet davon, wie er sich während des Retreats die meiste Zeit gequält und erst im Nachhinein die positive Wirkung von stiller Meditation, Langeweile und unbequemen Sitzhaltungen gespürt hat. Mit seinem differenzierten Ansatz ist dieses Buch eine willkommene Abwechslung zu den vielen Ratgebern, die lediglich zeigen, wie wir am nachhaltigsten oder entspanntesten unsere eigene Achtsamkeitsmeditation finden können.

Chancen und Grenzen der Achtsamkeit

Nach dem recht lockeren Anfang geht es schnell in die Tiefe: Jacob Schmidt berichtet von der Geschichte und der Entwicklung der Achtsamkeit, erläutert ihre Facetten und präsentiert mögliche Definitionen. Dann geht er der Frage nach, wie Achtsamkeit so populär werden konnte – obwohl viele Praktizierende seiner Meinung nach gar nicht richtig verstehen, was sie da tun. Der Autor hinterfragt auch das Versprechen, das häufig mit Achtsamkeit verknüpft wird: dass man als Individuum die Macht habe, die Welt um sich herum – und womöglich sogar die gesamte Welt – zu verändern. Jacob Schmidt legt nachvollziehbar dar, inwiefern diese Annahme problematisch ist. Dann geht der Autor dem Zusammenhang von Achtsamkeit und Freiheit nach. Dabei beleuchtet er unterschiedliche Freiheitsbegriffe, von denen ihm einige unproduktiv oder nicht gesellschaftsfähig erscheinen. Schließlich widmet Schmidt sich dem »gelingenden Leben«, zu dem die Achtsamkeit maßgeblich beitragen soll. Hier kommt er zu einer Art Fazit seiner Überlegungen und führt dabei aus, wie wir trotz aller Kritik von der Achtsamkeit profitieren können. Letztlich, so Schmidt, könne ein Wandel in der Gesellschaft durchaus für mehr Achtsamkeit sorgen. Aber umgekehrt von der Achtsamkeit zu erwarten, dass sie unser Leben und unseren Umgang miteinander substanziell verbessern könne, sei überzogen.

Seine Argumente bringt Jacob Schmidt schlüssig und überzeugend vor. Allerdings ist die philosophische und gedankliche Tiefe seiner Überlegungen eine Herausforderung, der sich wohl nicht alle Lesenden bis ans Ende des Buchs werden stellen wollen. In manchen Abschnitten wird der Stoff recht trocken präsentiert, hier wäre man für ein paar mehr Auflockerungen oder Anekdoten dankbar gewesen.

Somit ist dieses Buch vor allem denjenigen zu empfehlen, die sich gerne mit philosophischen Fragen und differenzierten Betrachtungen der menschlichen Psyche befassen. Einen leichten Einstieg in die Theorie der Achtsamkeit oder eine Darstellung möglicher Vor- und Nachteile ihrer Praxis bietet es nicht – und will es auch gar nicht bieten. Wer sich also für Achtsamkeit interessiert und dabei gedanklich in die Tiefe gehen möchte, wird Freude an Schmidts Ausführungen und den hilfreichen Verweisen auf Quellen haben, die zu weiterer Vertiefung einladen.

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