Im Reich der Viren
Bekannt geworden ist die Virologin Karin Mölling durch ihre Forschung an retroviralen Tumorviren, einschließlich des Humanen Immundefizienz-Virus. Bereits als Doktorandin entdeckte sie die RNase H, ein Enzym, das Retroviren für ihre Vermehrung benötigen. Doch auch auf anderen Gebieten wie der Impfstoffentwicklung hat Mölling Bahnbrechendes geleistet – unter anderem als Gruppenleiterin am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin und bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 2008 als Professorin und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich. Davon zeugen nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, sondern auch renommierte Preise wie der Swiss Award und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Als Direktorin für Zell- und Molekularbiologie bei der US-Biotech-Firma »Apollon« erhielt die Virologin zudem einen Einblick in die industrielle Forschung. All dies prädestiniert sie dafür, dieses Buch über Viren zu schreiben. Das Werk ist in einer Erstfassung 2015 erschienen und wurde nun mit einem ausführlichen Vorwort zur Corona-Krise erweitert und neu aufgelegt.
Facettenreiches Thema
Angesichts des derzeit großen Interesses an Seuchen und Krankheitserregern erhofft sich der Verlag C.H.Beck davon wahrscheinlich viele Leser. Allerdings war es in dem Ursprungswerk eigentlich Möllings Anliegen, aufzuzeigen, wie vielseitig und nützlich die meisten Viren sind. Leser, die sich gezielt über Coronaviren, Covid-19 und andere einschlägige Krankheiten informieren wollen, werden in dem Band kaum auf ihre Kosten kommen. Zumal der Hauptteil offenbar nicht oder kaum überarbeitet wurde; zumindest finden sich darin veraltete Aussagen wie die, dass auf eine menschliche Zelle zehn Mitglieder unseres Mikrobioms kämen. Seit 2016 ist bekannt, dass das Verhältnis eher bei 1:1 liegt.
Tendenziell das ganze Buch, besonders aber die neuen Passagen zur Corona-Krise lassen leider einen sprunghaften Schreibstil erkennen, der wohl vor allem für Laien schwer zu verarbeiten sein wird. Nicht nur fehlt ein roter Faden, auch reißt die Autorin jedes Thema mit nur wenigen Sätzen an, so dass ein breites und zugleich fundiertes Vorwissen erforderlich ist, um das Gelesene richtig einordnen zu können. Die verkürzte Darstellung macht etliche Zusammenhänge unverständlich – manchmal so sehr, dass die Gefahr besteht, das Vertrauen in Wissenschaft, Forscher und Ärzte ungewollt nachhaltig zu beschädigen. Ein Beispiel: »Masern gibt es nicht nur in der Ukraine, sondern wurden sogar von einem Kinderarzt auf seine Patienten übertragen. Er war nicht geimpft, was eine heftige Diskussion auslöste.« Ohne eine genauere Einordnung der Ereignisse sorgt das für Verunsicherung.
Das starke sprachliche Vereinfachen, das Laien ansprechen soll und in auffälligem Kontrast zum häufigen Fachwortgebrauch steht, führt oft zu wenig überzeugenden Formulierungen. So sind Faultiere keine »Art Affen, die so faul sind, wie sie heißen«, sondern an eine bestimmte Lebensweise perfekt angepasste Verwandte von Ameisenbären und Gürteltieren. Ungenau recherchiert hat Mölling zudem im Falle des Findlings Kaspar Hauser, dessen Identität trotz genetischer Analysen bis heute eben noch nicht geklärt wurde.
Von Haus aus Physikerin hat Mölling ein Zweitstudium der Biochemie und Molekularbiologie absolviert. Grundlegende biologische Prinzipien wie die Evolution scheint sie dennoch eher frei zu interpretieren. Sätze wie »Das beginnende Leben passte sich nicht den Gegebenheiten an, sondern schuf sich die notwendigen Voraussetzungen, vor allem den Sauerstoff«, schreiben »dem Leben« eine Absicht sowie gezieltes Handeln zu, was der heutigen empirischen Erkenntnis widerspricht. Sauerstoff entstand als Abfallprodukt der Fotosynthese und wirkte auf die Organismen zunächst giftig. Wer es schaffte, mit dieser reaktionsfreudigen Verbindung zurechtzukommen und sie sogar Gewinn bringend nutzen konnte, hatte einen immensen Selektionsvorteil – deshalb haben sich entsprechende Organismen evolutionär durchgesetzt. Auch die Aussage, Prionen seien ebenfalls zu den Viren zu zählen, entspricht nicht dem heutigen Kenntnisstand.
Mölling blickt auf ein langes und aufregendes Forscherleben zurück, in dem sie unzählige Größen ihres Fachs kennen gelernt hat. Sie hat viel zu erzählen, und die Anekdoten über ihre Begegnungen mit bedeutenden Wissenschaftlern sind durchaus unterhaltsam. In der jetzigen Form wird das Buch jedoch viele Leser überfordern. Wer einen leicht verständlichen Überblick über den aktuellen Stand der Virenforschung sucht, sollte deshalb auf andere Werke zurückgreifen.
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