Mathematik als Befreiung
Mit Mathematik zur Freiheit und zum Glück gelangen: Das klingt sehr ambitioniert. Doch eben diesen Anspruch vertritt Rudolf Taschner, weithin bekannter österreichischer Mathematiker und Autor, in seinem neuesten Buch – und verbindet dies mit Anregungen, wie sich der Mathematikunterricht in den Schulen verbessern lasse. In Form eines Essays geht der Autor einerseits mathematischen Ideen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nach, und nimmt andererseits Ziele und Praxis des Mathematikunterrichts kritisch unter die Lupe.
Ob Steinzeit, Antike oder Mittelalter: Taschner ist überzeugt, dass Zahlen schon immer Macht und Besitz verkündeten. Vorgeschichtliche Medizinmänner hätten vor einem drohenden Kampf mit verfeindeten Stämmen so genannte Kerbhölzer zur Hand genommen, in die sie für jeden Krieger eines Stammes eine Kerbe schnitzten. Indem sie die Hölzer des eigenen und der gegnerischen Stämme miteinander verglichen, hätten sie entscheiden können, ob sich ein Kampf lohne oder nicht. In diesem Vergleichen lägen die Ursprünge der späteren Grundrechenarten, oder auch des Konzepts von Haben und Soll im kaufmännischen Rechnungswesen.
Geheimnisvolle Multiplikation
Bis ins Mittelalter, schreibt Taschner, sei es nur wenigen vorbehalten gewesen, wirklich rechnen zu können. Hatte ein Bauer 17 Säcke mit je 23 Pfund Weizen und wollte die Gesamtmenge wissen, so war er kaum in der Lage, die entsprechende Multiplikation 17 mal 23 (damals XVII mal XXIII) selbst durchzuführen. Stattdessen habe er einen Rechenmeister aufsuchen müssen, der das Ergebnis gegen Entgelt nach einem geheimen Verfahren ermittelte. Erst Rechenmeister Adam Ries (1492-1559), der die Grundoperationen, unser heutiges Stellenwertsystem (statt des römischen Systems) und den Dreisatz allgemeinverständlich und in deutscher Sprache unter das Volk brachte, habe dazu beigetragen, diese Fesseln der Abhängigkeit zu lösen und das selbständige Denken zu stärken.
In diesem Sinn, so der Autor, trägt Mathematik zur Freiheit bei. Auch wer heute frei sein wolle, dürfe sich weder dem Taschenrechner noch anderen digitalen Geräten und Programmen (und ihren Erfindern) unterwerfen. Das heiße aber nicht, dass man diese Geräte nicht gebrauchen solle, sondern dass man nachvollziehen und überprüfen solle, wie Ergebnisse von Rechnungen zustande kommen und ob sie plausibel sind. Bei der obigen Rechnung könnte man zum Beispiel 17 auf- und 23 abrunden auf jeweils 20. Dann wäre 20 mal 20 gleich 400 eine brauchbare Näherung für das tatsächliche Ergebnis 391.
Laut Taschner solle der Mathematikunterricht auf drei Säulen ruhen. Erstens auf praxisrelevanten Grundfertigkeiten, die alle benötigen, um sich in der modernen Welt zurechtzufinden. Dazu gehören Überschlagsrechnungen; das Verstehen (und nicht nur Automatisieren) der Grundoperationen Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Dividieren; der Umgang mit Brüchen, Verhältnissen, Prozenten und Variablen. Warum gerade diese Dinge so wichtig für Aufklärung und Freiheit sind, erläutert der Autor anhand von Beispielen aus der Physik oder Finanzwelt. Diese erste Säule dürfe aber nicht überbetont werden – das wäre sonst so, als würde man im Kunstunterricht nur lernen, Zäune zu streichen.
Ausbildung mit drei Pfeilern
Vielmehr müsse der Unterricht auch die zweite Säule behandeln: Mathematik als Kulturgut. So wie der Musikunterricht vermittle, große Meisterwerke zu hören, solle der Mathematikunterricht ermöglichen, die Gedanken bedeutender Mathematiker wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen, um an den wichtigen Einsichten des Fachs teilzuhaben. Etwa indem er die Grundideen der newtonschen Differentialrechnung thematisiert und darlegt, wie bedeutsam sie für Gesellschaft und Technik sind (statt Ableiten und Integrieren zu pauken). Die dritte Säule schließlich solle darin bestehen, Begabten "das Tor zu dieser Wissenschaft so weit [zu] öffnen, dass sie nicht nur, wie alle anderen auch, hineinblicken, sondern sogar hindurch schreiten können".
Taschners Buch ist in gewissem Sinne der ersten und zweiten Säule verpflichtet. Der Autor bespricht lediglich die elementaren mathematischen Konzepte genauer. Wo es darüber hinausgeht, etwa bei der Differentialrechnung, skizziert er die Ideen nur grob. Dafür bettet er sie in spannende Erzählungen ein. So nimmt er auch mathematisch oder historisch weniger vorgebildete Leser mit. Fortgeschrittene könnten sich an den teils recht vereinfachten und spekulativen historischen Darstellungen stören und werden wohl auch fachlich wenig Neues erfahren. Taschners Kritik an ausgewählten Aufgaben der PISA-2000-Studie ist gut begründet und nachvollziehbar, lässt allerdings einen Aktualitätsbezug vermissen.
Mathematik auch als Kulturgut zu thematisieren und ihre Rolle im Zuge der Digitalisierung kritisch zu analysieren, sind wichtige Impulse für den Mathematikunterricht der Zukunft. Leider lässt Taschner aber den Eindruck entstehen, der Lehrplan sei hinsichtlich der ersten Säule mit überflüssigen Inhalten überfrachtet, die zugunsten der zweiten Säule gekürzt werden müssten. Damit geht er auf Stimmenfang bei Lesern, die Probleme im Matheunterricht hatten und dies darauf schieben, dass von ihnen zu viel verlangt worden sei. Tatsächlich aber entsprechen bereits die heutigen Volksschul-Lehrpläne überwiegend Taschners Forderung bezüglich der ersten Säule. Die These, in höheren Klassen auf das Umformen von Gleichungen oder Differential-/Integralrechnung verzichten zu können, ist gewagt, gerade wenn die Hochschulreife das Ziel darstellt. Denn heute kommt man in zahlreichen Studiengängen um diesen Stoff nicht mehr herum.
Auch anderswo greifen die Argumente des Autors mit Blick auf die Bildungspolitik sehr kurz. Er betrachtet nicht differenziert genug, was zu den Fertigkeiten der ersten Säule gehört, ob man diese in vergleichenden Tests abbilden kann oder ob ein – auch nur ahnungsweises – Verstehen mathematischer Konzepte ohne weitere Voraussetzungen möglich ist. Unterm Strich also ein Werk, dem man nicht vorbehaltlos zustimmen kann.
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