Verzaubernde Klänge
Graf Keyserlingk, ein ehemaliger russischer Gesandter am kursächsischen Hof, war oft krank und litt unter Schlafstörungen. In schlaflosen Nächten musste ihm sein damals 14-jähriger Hofcembalist Johann Gottlieb Goldberg beruhigende Musik vorspielen. Einmal äußerte der Graf gegenüber Johann Sebastian Bach, dass er sich einige sanfte und zugleich muntere Klavierstücke für Goldberg wünsche, um ihn nachts etwas aufzuheitern. Bach glaubte, diesen Wunsch am ehesten mit dem Mittel der Variation erfüllen zu können, und so entstanden seine berühmten Goldberg-Variationen. Sie gefielen dem Grafen so sehr, dass er den Komponisten mit 100 Goldmünzen in einem goldenen Becher entlohnte.
Der Neurologe Eckart Altenmüller hat der Musik dieses Buch gewidmet. Darin geht es nicht nur um ihre heilende Wirkung, sondern vor allem darum, warum sie für den Menschen so wichtig ist, wie die Liebe zu ihr entwicklungsgeschichtlich entstand und wie Musik gemacht und wahrgenommen wird. Dass der Autor zugleich selbst Musiker ist, gereicht seinem Werk zum Vorteil. Denn wie sonst könnte er mit derartiger Genauigkeit und Leidenschaft erklären, auf welche Weise Musik über das Ohr ins Gehirn gelangt, dort verarbeitet wird und das Denkorgan sogar verändert. Nichts rege die Neuroplastizität so sehr an wie das Musizieren, schreibt der Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musiker-Medizin in Hannover.
Spuren in den prämotorischen Arealen
Seine Faszination für Musik wird auch deutlich, wenn er die sensomotorischen Leistungen von Musikern beschreibt. Während im Alltag alle Teile einer Hand gemeinsam eine Aufgabe lösen, etwa einen Gegenstand ergreifen, benutzen beispielsweise Pianisten die Finger weitestgehend als selbstständige Körperteile. Das zeigt sich auch im Gehirn: So ist bei ihnen der Bereich in den primären motorischen Arealen, der die Hand repräsentiert, im Vergleich zu Nichtmusikern vergrößert. Beim Musizieren sind räumlich-zeitliche Präzision und Schnelligkeit gefragt, überdies Kreativität und Gefühle. Ob Musizieren auf professionellem Niveau tatsächlich das Schwierigste ist, was der Mensch vollbringen kann, wie Altenmüller schreibt, sei dahingestellt.
Die technischen Fähigkeiten von Musikern haben in den zurückliegenden Jahrhunderten zugenommen. Während etwa die Klavierstücke von Franz Liszt heute zum Standardrepertoire von Musikstudenten gehört, konnte sie zu Liszts Zeiten kaum jemand spielen. Und bei den Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen sind heute Werke gefragt, die Absolventen früher bei Abschlusskonzerten zum Besten gaben. Gründe für diesen Fortschritt sind laut Altenmüller die zunehmende Spezialisierung von Musikern, die Intensivierung der musikalischen Praxis, bessere Instrumente, besserer Unterricht und die modernen Lebensbedingungen. Unklar bleibt nur, wieso das Leistungsniveau beim Gesang früher höher war als heute. Ebenso wäre es interessant herauszufinden, warum geniale Komponisten und Musiker wie Bach, Mozart, Händel oder Beethoven bis heute ihresgleichen suchen.
Der Autor gibt Tipps für erfolgreiches Üben, macht allerdings auch klar, dass der »emotionale Raum« eines Musikers nicht in der »Übungszelle« entsteht, sondern durch innere Bilder. Diese wachsen aus Beobachtungen des täglichen Lebens, aus Erfahrungen, Beziehungen, Naturerlebnissen, der bildenden Kunst, Literatur und Theater. Denn Musik sei in erster Linie die Vermittlung von Gefühlen. Sie lebe von der Vorstellungskraft des Spielers und erzähle uns etwas.
Altenmüller vermutet, Musik sei ursprünglich entstanden, indem sich die Sprachmelodie von der Sprache löste und als rein emotionale Kommunikationsform weiterentwickelte. Sie ermöglicht es uns, Gefühle mitzuteilen, und lässt uns diese gemeinsam empfinden. Daher sei Musik ein wichtiger sozialer »Klebstoff«. Musik könne aber nicht nur besonders starke Gefühle ausdrücken, sondern diese auch auslösen. Genau das sei der Unterschied zwischen Musik und Sprache, meint jedenfalls der Autor.
Das Sachbuch richtet sich an alle Musikliebhaber, die sich wie Altenmüller die Frage nach dem Woher, Wie und Warum der Musik stellen. Dem Autor ist ein gut strukturiertes und spannendes Werk geglückt, das unterschiedliche Facetten beleuchtet. Es scheint, als enthielte das Buch alles, was den Forscher seit Jahren umtreibt. Für ihn besitzt Musik die Fähigkeit, uns das Leiden und die Zeit vergessen zu lassen. Musik, schreibt er, sei nicht nur ein Teil des Lebens, sondern eine menschliche Notwendigkeit.
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