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»Was heißt hier noch real?«: Wir dürfen die virtuelle Realität genießen!

Dem Verhältnis von »virtueller« und »originaler« Realität widmet sich Claus Beisbart. Sein Buch bietet einen guten Überblick zum Thema und formuliert wichtige Fragen, etwa zu einer Ethik für das Verhalten in virtuellen Räumen.
Junge Frau mit VR-Brille beim virtuellen Boxtraining

Auf rund 160 Seiten präsentiert der Wissenschaftsphilosoph Claus Beisbart von der Universität Bern seine Ideen zur »virtuellen Realität« (VR) und grenzt diese dabei von der »originalen Realität« (OR) ab. VR ist inzwischen ein alltägliches Phänomen. Mit Hilfe von Computersimulationen bietet sie uns einen neuen, technologisch geprägten Zugang zur Wirklichkeit.

Dank der drastischen Zunahme der Leistung von Computern gibt es immer mehr Programme, die virtuelle Wirklichkeiten erzeugen können. »Klassische« Anwendungen sehen wir beispielsweise bei Computerspielen, die uns in möglichst realistische virtuelle Welten versetzen, oder bei der Ausbildung an Flugsimulatoren, mit denen sich sicher und problemlos erlernen lässt, ein Flugzeug zu steuern. Auf diese Weise hilft VR beim Üben komplexer Abläufe in der Ausbildung und schafft Welten, die in der analogen Realität kaum zu erleben sind. Solche Simulationen kennt man bereits aus wissenschaftlichen Zusammenhängen, sie werden schon seit Langem etwa für die Wettervorhersage oder die Prognose der Klimaerwärmung eingesetzt.

Beisbart geht in sieben Kapiteln verschiedenen Aspekten dieser in den letzten Jahren immer ausgefeilteren technischen Entwicklungen nach. In den beiden einleitenden Kapiteln wird beschrieben, was wir unter virtueller Realität verstehen und wie diese entsteht. Die entsprechenden Computersimulationen sind an extrem leistungsfähige Rechner und Geräte wie VR-Brillen und »Touch-Controller« gekoppelt. Die technischen Gesichtspunkte werden ausführlich genug beschrieben, um ihre Funktionen verstehen zu können, ohne dass man sich dabei in komplexen Details verlieren müsste. Wer einzelne Themen vertiefen möchte, kann dies mit Hilfe der im Buch angegebenen Literatur- und Internetverweise tun.

Wie real ist das Virtuelle?

Die weiteren Kapitel sind philosophischen Aspekten des Themas gewidmet. Hier schildert Beisbart Theorien, die sich mit der Interpretation der virtuellen Realität beschäftigen. Unter anderem stellt er die Ideen Hilary Putnams vor, der mit dem Begriff des »Gehirns im Tank« bekannt geworden ist. Beisbart argumentiert überzeugend dafür, dass unsere Wahrnehmung der Welt auf Grund einer bestehenden Simulation nicht einfach für »künstlich« erklärt werden kann. Folglich könne auch keine Rede davon sein, dass wir in einer »computergenerierten Welt« leben.

Die sich daran anschließende Frage, »wie real die virtuelle Realität ist«, führt zu den Überlegungen des Philosophen David J. Chalmers. Dieser erklärt, wie die virtuelle Realität als eigener Bereich der Wirklichkeit verstanden werden kann. Der Autor findet diese Gedanken ansprechend, aber nicht vollkommen befriedigend, denn »es existieren Computerberechnungen, die man als Computersimulationen ansehen kann, aber nicht muss«. Als Beispiel dient die Berechnung der Schwingungen eines Pendels. Die zugehörigen Differenzialgleichungen können als Grundlage für eine entsprechende physikalische Simulation dienen, aus anderer Sicht können sie jedoch genauso gut als mathematische Gleichungen ohne physikalische Bedeutung interpretiert werden. Für »den Physiker handelt es sich um die Computersimulation eines Pendels«, während »aus der Perspektive der Mathematikerin … das jedoch implausibel« ist. »Ein Computer führt letztlich Rechnungen durch«, und dass man »in diese Rechnungen jedoch physikalische Objekte hineinlesen« will, sieht Beisbart als Problem.

Andere Diskussionspunkte sind so genannte fiktionale Interpretationen, bei denen wir die computergenerierten Eindrücke als Einladung sehen, uns in eine andere Welt zu versetzen. Ethische Aspekte unseres Verhaltens in virtuellen Welten werden im Kapitel »Was darf ich in der virtuellen Realität tun?« aufgeworfen und ausführlich dargestellt. Die beiden letzten Kapitel bilden eine Art Resümee. Sie führen aus, welchen Wert der Aufenthalt in virtuellen Szenarien bietet, der unserer gewöhnlichen Realität abgeht, und welche Möglichkeiten dies dem Einzelnen eröffnet.

Im Schlusskapitel skizziert der Autor die Möglichkeiten eines künftigen Einsatzes der VR-Technologie, der auf gesellschaftlicher Ebene sehr unterschiedliche Konsequenzen haben kann. Der von VR-Anwendungen genährten »Utopie einer grenzenlosen Wahlfreiheit« setzt Beisbart die Einschätzung entgegen, dass Menschen die tatsächliche Begegnung mit der Natur vermissen werden und sich die Gesellschaft möglicherweise in viele virtuelle Welten zersplittern könne. Er schlussfolgert: »Wir dürfen die VR genießen, doch die OR hat Priorität.«

Das Buch bietet eine anregende und flüssig geschriebene Darstellung vieler für das Verständnis der virtuellen Realität relevanter Prozesse und Ideen. Dabei gibt es nicht nur einen guten Überblick zum Thema, sondern regt auch, ganz real, zum Nachdenken an.

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