Vom Universum zum Multiversum
Die Quantenmechanik ist eine experimentell extrem gut getestete Theorie, und gleichzeitig ruft sie zumindest ein Stirnrunzeln bei jedem Studierenden hervor. Zwar sind die mathematischen Rezepte der Theorie etwas anspruchsvoller, aber das allein ist noch kein Grund zur Skepsis. Schwieriger ist hingegen die Interpretation dieser Konzepte. Der verbreitetsten Deutung zufolge besteht die Welt aus Wellenfunktionen, deren zeitliche Entwicklung deterministisch ist. Damit lässt sich zwar nicht direkt beschreiben, wie sich die Welt verändert, aber zumindest, wie sich die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Ereignisse verhalten.
Spukhafte Fernwirkung
Wenn man sich Messungen in dieser Anschauung zuwendet, wird es allerdings rätselhaft: Die Wellenfunktion kollabiert demnach augenblicklich in einen Zustand, der dem Messergebnis entspricht. Doch das widerspricht dem Geist der Relativitätstheorie, da unter anderem eine unendlich ausgedehnte Wellenfunktion instantan auf einen Punkt kollabieren kann. Diese »spukhafte Fernwirkung«, wie Albert Einstein das Phänomen bezeichnete, wird insbesondere am berühmten Beispiel zweier verschränkter Quantenteilchen deutlich: Man präpariert sie so, dass sie gemeinsam den Drehimpuls null besitzen, und entfernt sie anschließend voneinander. Misst man dann den Spin eines Teilchens, kollabiert sofort auch die Wellenfunktion des anderen, womöglich weit entfernten Teilchens. Diese Eigenschaft betrachten viele Physiker als unschön.
Gibt es Auswege? Ja. Hugh Everett (1930-1982) entwickelte eine berühmte alternative Interpretation der Quantenmechanik, die Viele-Welten-Theorie. Demnach kollabiert nicht die Wellenfunktion, sondern die Welt spaltet sich gemäß den Wahrscheinlichkeiten auf, so dass es nach dem Messvorgang (im einfachsten Fall) zwei unabhängige Kopien des Universums gibt. Wenn man an die Zahl der existierenden Teilchen denkt und wie viele Wechselwirkungen stattfinden, die jeweils zu zahlreichen verschiedenen Ausgängen führen können, erhält man eine Schwindel erregende Menge an Multiversen. Die Viele-Welten-Theorie ist also keine bequeme Alternative.
Das veranschaulicht, wie hart die Nuss ist, die es bei der Interpretation der Quantenmechanik zu knacken gilt. Der kalifornische Physiker Sean Carroll ist ein Verfechter der Viele-Welten-Deutung und begründet seine Haltung mit seinem neuen Buch »Was ist die Welt und wenn ja, wie viele?«.
Der 400 Seiten lange Text ist in drei Teile gegliedert. Der erste beschreibt die Quantenmechanik und die zuvor genannte Lehrbuch-Interpretation, die so genannte Kopenhagener Deutung. Im zweiten Teil stellt Carroll die Viele-Welten-Variante vor und diskutiert sie im Vergleich zur traditionellen Ansicht. Dem Autor zufolge ist die Viele-Welten-Theorie die konsequenteste Auslegung, sie nimmt demnach die Gesetze der Quantenmechanik vollkommen ernst. Die Diskussion möglicher Einwände hat er in ein fiktives Gespräch zwischen der jungen Quantenphysikerin Alice und ihrem Vater gepackt. Alice geht klar als Siegerin aus dem Dialog hervor.
Ginge es Carroll bloß um die Interpretation der Quantenmechanik, würde er wohl kaum als Physiker, sondern eher als Wissenschaftsphilosoph arbeiten – und sein Buch könnte nach dem zweiten Teil enden. Aber der Autor geht weiter und beschreibt im dritten Teil seine eigentliche Forschung. Wie wäre es, wenn nicht Raum und Zeit die Bühne sind, auf der sich das Drama der Quantenmechanik entfaltet, sondern der abstrakte Raum der Wellenfunktionen die grundlegende Entität der Welt wäre? Raum und Zeit wären demnach Phänomene, die erst aus den Eigenschaften und Wechselwirkungen der Quantenwelt entstehen. Mit so einer Weltsicht erscheinen verschiedene Interpretation der Quantentheorie lediglich als umständliche Versuche, Raum und Zeit als fundamental anzusehen.
Carrolls Buch ist anspruchsvoll und richtet sich nicht an Laien, die einmal etwas über die Quantenmechanik lesen möchten. Wer hingegen Physik studiert hat und die diskutierten Theorien kennt, wird vor allem am dritten Teil seine Freude haben. Sollte man sich etwa fragen, warum Physiker zu einer bestimmten Interpretation neigen, obwohl es für experimentelle Tests sowieso keinen Unterschied macht, findet die Leserschaft eine Antwort im letzten Abschnitt. Denn sieht man die Quantenwelt als fundamental an, lohnt es sich, die offenen Baustellen der Quantenphysik nochmals zu inspizieren: etwa Schwarze Löcher und ihre Ereignishorizonte oder den Urknall.
Leider ist das Buch etwas holprig übersetzt. Viele lange und verschachtelte Sätze erschweren es der Leserschaft, den Gedanken des Autors zu folgen. Und auch der deutsche Titel und Untertitel erscheinen weniger überzeugend als die englische Originalversion: »Something Deeply Hidden – Quantum Worlds and the Emergence of Spacetime« (Etwas tief Verborgenes – Quantenwelten und wie die Raumzeit entsteht) ist viel präziser und spannender formuliert.
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