Kapitalismus vs. Demokratie?
Finanz- und Wirtschaftskrise, Politikverdrossenheit und verstärkter Zulauf zu rechtspopulistischen Strömungen zählen zu den Krisensignalen unserer Zeit. Dass sich die Demokratie insgesamt in einer Krise befinde, ist in diesem Zusammenhang oft zu hören. Doch was stimmt nicht mit ihr? Dem sind die Soziologinnen Hanna Ketterer und Karina Becker nachgegangen. Im vorgelegten Buch versammeln sie entsprechende Debattenbeiträge.
Im Zentrum des Werks stehen soziologische und philosophische Beiträge der Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa sowie der Philosophin und Feministin Nancy Fraser. Im ersten Buchteil präsentieren die Autor(inn)en ihre Thesen, die jeweils von zwei weiteren Autor(inn)en – allesamt Soziologen oder Politikwissenschaftler – kommentiert werden. Der zweite Teil des Bands gibt im Wortlaut eine Debatte wieder, die im Mai 2018 anlässlich eines Workshops zwischen Fraser, Dörre, Lessenich und Rosa stattfand.
Demokratie und Wirtschaft
Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie in Jena, vertritt die Ansicht, dass die Krise im kapitalistischen Wirtschaftssystem begründet liegt. Dieses lasse in ökonomischen Zusammenhängen immer weniger Platz für demokratische Strukturen, weshalb demokratische Staatssysteme Gefahr liefen, dem Wirtschaftssystem zum Opfer zu fallen. Hinzu komme, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft in der Politik unzureichend repräsentiert werde. Demokratien könnten auf Dauer nur bestehen, wenn gesellschaftliche Mitbestimmung auch auf Gebiete ausgedehnt würde, die davon bislang ausgeschlossen waren. Doch dazu müssten kapitalistische Eigentumsverhältnisse in Frage gestellt werden. Polemisch fordert Dörre bereits im Titel seines Beitrags, Marc Zuckerberg, den Gründer und Vorstandsvorsitzenden von Facebook, zu enteignen.
Ähnlich argumentiert die New Yorker Philosophie- und Politikprofessorin Fraser. Das auf Wirtschaftswachstum angelegte neoliberale, kapitalistische System, schreibt sie, sei zwar auf politische Institutionen und Strukturen angewiesen, untergrabe und schwäche sie aber durch ökonomische Einflussnahme. Da die Produktion zunehmend privatisiert werde, habe der Staat immer weniger Möglichkeiten, die Wirtschaft zu organisieren. Rechtspopulistische Strömungen, die sich oft gegen »die Eliten« richten, sind für Fraser ein Symptom dafür, dass Bürger mit dem »neoliberalen System« und seinen Parteien, von denen sie sich nicht mehr vertreten fühlen, abschließen möchten.
Lessenich, Soziologieprofessor an der LMU München, konzentriert sich auf die Demokratie im Wohlfahrtskapitalismus. Während sie den Anspruch vertrete, alle Bürger als grundsätzlich gleichberechtigt anzuerkennen, würde sie sich in der täglichen Praxis immer mehr auf den Aspekt der sozialen Teilhabe beschränken. Lessenich skizziert mehrere Konfliktzonen: zwischen dem gesellschaftlichen »Oben« und »Unten«; dem »Innen« und »Außen«, sprich der Frage, wer einer Gesellschaft angehören soll und wer nicht; zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Die Forderung, die Demokratie zu demokratisieren, kritisiert der Soziologe Ingolfur Blühdorn als jahrzehntealte »Endlosschleife« einer kritischen Soziologie.
Im Kontrast dazu vermeidet Rosa, Soziologieprofessor in Jena, eine primär auf das Ökonomische gerichtete Kritik. Stattdessen macht er eine »Resonanzkrise« in demokratischen Gesellschaften aus. Aus seiner Sicht versprechen demokratische Systeme dem Individuum zwar, eine Stimme zu besitzen, die es hörbar machen und in den politisch-gesellschaftlichen Prozess einbringen kann. Doch das dafür notwendige Zuhören und Antworten funktioniere nicht mehr, was zur Entfremdung innerhalb der Gesellschaft führe.
Die Herausgeberinnen selbst kommen zu dem Schluss, dass weniger eine Krise der Demokratie als vielmehr eine des kapitalistischen Wirtschaftssystems vorliege. Folglich seien sowohl institutionelle Reformen als auch gesamtgesellschaftliche Entscheidungen notwendig, um festzulegen, welche Güter produziert, konsumiert und auf welche Weise sie umverteilt werden sollen.
Die in dem Buch vorgestellten politikphilosophischen beziehungsweise soziologischen Ansätze lassen sich eher dem linken Spektrum zuordnen. Das ist an und für sich legitim, und die verschiedenen Beiträge hierzu enthalten auch durchweg diskussionswürdige Ansätze, wobei sie vor allem auf demokratische Systeme europäischer oder US-amerikanischer Prägung zielen. Leider können sie, angesichts der Komplexität des Themas, nur bestimmte Facetten behandeln und sind auch nicht immer frei von Polemik. Die Frage, auf welch verschiedene Arten sich Demokratie definieren lässt, klingt wiederholt an – etwa in Rosas Unterscheidung zwischen einem republikanischen und einem liberal-individualistischen Demokratieverständnis –, hätte aber noch intensiver behandelt werden sollen.
Das Buch ist für Leser(innen) geeignet, die sich auf akademischem Niveau mit der aktuellen Demokratiekrise befassen möchten.
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