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Entscheidung über Leben und Tod

Wer sollte ein Beatmungsgerät oder ein Organ bekommen? Eine medizinethische Sicht auf reale Dilemmata.

Wenn Sie im November 2019 Menschen auf der Straße gefragt hätten, was das Wort »Triage« bedeutet, hätten Sie vermutlich in viele ratlose Gesichter geblickt. Anderthalb Jahre und eine globale Pandemie später sieht die Situation völlig anders aus. Auch in Europa standen Medizinerinnen und Mediziner auf überfüllten Intensivstationen mancherorts vor der Frage, welcher Patient Sauerstoff bekommen sollte – und welcher nicht.

Solche so genannten Hilfskonflikte, in denen nach verschiedenen Kriterien abgewogen werden muss, wem Hilfe zukommen soll, sind in der Medizin nicht unbekannt. Schon seit es möglich ist, Organe zu transplantieren, stellt sich eine Reihe derartiger Fragen: Wenn mehrere Menschen eine neue Leber brauchen, ist es dann vertretbar, diese einem Alkoholiker zu geben? Sollte man mit den Organen eines Spenders lieber mehrere Menschen oder eine Person retten, die unter multiplem Organversagen leidet? Die Bandbreite der Fragen reicht von intuitiv-moralisch leicht zu entscheidenden (Sollte ein Organ eher einem 85- oder einem 20-Jährigen transplantiert werden, wenn beide es zum Überleben benötigen?) bis hin zu solchen, auf die es keine richtigen Antworten geben kann.

Die Autorin Annette Dufner nimmt sich jener heiklen Problematik an. Sie hat den Lehrstuhl für Medizinethik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne und legt ein Fachbuch vor, das mit Fug und Recht als zukünftiges Standardwerk hierzu betrachtet werden kann. Es fasst den Stand der Forschung und die verschiedenen Positionen innerhalb der Debatte sehr gut zusammen und entwickelt von dort aus eigene Gedanken, die den Diskurs noch prägen werden.

Hilfe bei komplexen moralischen Fragen

Die Theorie der Philosophin basiert vor allem auf der »interpersonellen Aggregation«, bei der man personenübergreifend die Vor- und Nachteile einer medizinischen Entscheidung zusammenfasst. Das Vorgehen würdigt verschiedenste Bedürfnisse und ermöglicht es, auch in komplexen Situationen mit mehreren Beteiligten handlungsfähig zu bleiben und Entscheidungen zu fällen. Der Autorin gelingt es, ihre Theorie verständlich zu machen, und es ist erfrischend, wie sie diese bisweilen bestechend scharfsinnig und nüchtern auf tatsächliche Dilemmata anwendet. Etwa das des wiederholten Organbedarfs: Gibt man jemandem, der alle zehn Jahre eine neue Niere benötigt, mehrmals ein Organ oder doch lieber verschiedenen Personen je eines?

Dufners präzise, kleinteilige Analysen sind eher ethisch vorgebildeten Lesern zu empfehlen. Das gilt besonders für den ersten, theoretischen Teil. Der zweite Teil wendet die abstrakten Überlegungen dann auf tatsächliche Beispiele aus dem Bereich der Organspende an. Zuletzt bezieht die Autorin ihren Ansatz auf die aktuelle Pandemie, etwa auf die Triage.

Die titelgebende Frage »Welche Leben soll man retten?« beantwortet das Werk naturgemäß nicht, trotzdem kann es eine Hilfe für betroffene Mediziner sein und dürfte noch eine ganze Reihe von Studierenden der Medizinethik beschäftigen. Einen Leitfaden für Hilfskonflikte liefert die Autorin allerdings nicht. Ihr Buch hilft, bei sehr komplexen und potenziell unentscheidbaren moralischen Fragen einen klaren Kopf zu behalten, weil sie kleinschrittig und genau die jeweiligen Probleme durcharbeitet. Die Entscheidung muss der Mediziner dennoch selbst fällen.

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