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»Weltall, Neutrinos, Sterne und Leben«: Eine vertane Chance

Der Ansatz, Material aus einem von Studenten konzipierten Seminar für ein Buch zur Astroforschung zusammenzustellen, misslingt auf Kosten seiner Leser.
Von einem zentralen, leuchtenden Fluchtpunkt aus expandiert das Weltall

Aus dem Material eines Seminars von Studenten für Studenten an der Universität Münster haben zwei Professoren die 266 Seiten dieses Buches zusammengestellt, das »Faszinierendes aus der Astroforschung« verspricht. Im Vorwort (S. 4) wird es als ein Versuch erklärt, »die Themen, die […] seit dem Bestehen des Astroseminars angeschnitten wurden, noch einmal Revue passieren zu lassen«. Vom Vorwort und einem knappen Epilog abgesehen sind hier elf größere Themenbereiche versammelt, die von der erkenntnistheoretischen Rolle der Physik (Kapitel 2) über die Physik der Elementarteilchen und ihrer Wechselwirkungen (Kapitel 4), die Entstehung der Elemente (Kapitel 7 und 9), kompakte Objekte (Kapitel 11) bis zur Kosmologie (Kapitel 5, 6 und 8) und einem Kapitel über Beobachtungsmethoden (Kapitel 12) reichen.

Bunt, mit vielen Abbildungen versehen, durch Einschübe, Kästen, verschiedene Schrifttypen gegliedert und unterbrochen werden viele, teils durchaus faszinierende Aussagen zu diesen Themen zusammengetragen. Man lernt daraus einiges über ganz unterschiedliche Gebiete, sei es zur Nukleosynthese, zur kosmologischen Inflation oder zum kosmischen Mikrowellenhintergrund.

Leider fällt dabei schon sehr früh auf, dass diese Aussagen weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen gelassen werden und die vielen wunderbaren Gelegenheiten, sie miteinander in Beziehung zu setzen, ganz ungenutzt verstreichen. Unerfreulich ist auch, dass manche Aussagen zu gleichen oder ähnlichen Themen, die an verschiedenen Stellen im Buch auftauchen, einander widersprechen. Und an manchen Stellen runzelt sich nicht nur die Stirn des Rezensenten, sondern auch die dahinter liegende Großhirnrinde.

Fehler statt Faszination

Diese Kritik lässt sich – leider – vielfach belegen. Die Physik sei beschreibend, aber nicht erklärend, liest man auf S. 10 und zuckt zusammen: Ist Physik von der Art der botanischen Taxonomie? »Erklärung« bedeutet in der Physik die Zurückführung von Phänomenen auf abstrakte Zusammenhänge. Die »mathematische Sprache« wird zwar erwähnt und zuweilen betont, aber dass sie neben dem Rechnen eine eminent ordnende und damit in diesem Sinne durchaus erklärende Funktion hat, bleibt ungesagt. So wird denn auch in Kapitel 6 die Chance vertan, darauf hinzuweisen, dass die scheinbar verwirrende Vielfalt der fundamentalen Wechselwirkungen aus einem einzigen Prinzip hervorgeht. Wenig später (S. 13) liest man, die Physik beschreibe niemals Dinge, die es nicht gibt. Nun werden aber physikalische Theorien erst dadurch glaubhaft, dass sie Phänomene vorhersagen, die noch nicht beobachtet wurden und die es zumindest in diesem Sinne noch nicht gibt.

Die weite Welt der physikalischen Größenordnungen wird aufgespannt, um ein Beispiel dafür zu geben, »dass man bei astronomischen und kosmologischen Skalen […] schnell den Überblick über Zehnerpotenzen verliert« (S. 21). Dass die verschiedenen Größenordnungen von Energie-, Längen- und Zeitskalen entscheidend für den Erfolg der Physik sind, weil sie die Trennung von Skalen erlauben, ist eine weitere vertane Chance, das wirklich Faszinierende an der Physik herauszustellen. Störend sind diese zahlreichen Nachlässigkeiten und Ungenauigkeiten, weil sie falsche Eindrücke prägen oder vertiefen.

Die erhebliche Verspätung der primordialen Nukleosynthese wird zunächst richtig erklärt, nämlich mit dem gewaltigen Photonenüberschuss (S. 34), dann falsch mit der »geringen Bindungsenergie« des Deuterons (S. 76), zwei Seiten später wieder richtig. Auf S. 38 liest man »Leider hat es das Universum bisher noch immer nicht geschafft, Elemente schwerer als Helium zu synthetisieren.« Auf S. 78 kommt es dann doch zur primordialen Synthese des Lithiums.

Im Kapitel über das inflationäre Universum, das die Inflation kaum verhüllt wie eine Tatsache erscheinen lässt, ist zunächst von allem Möglichen die Rede, zum Beispiel von der Winkelsumme im Dreieck und der Herkunft der Fliehkraft, dann von Masse, Zeit und Raum. Selbst einigermaßen mit den Relativitätstheorien vertraut, staunt man über die als Tatsache bezeichnete Aussage, »dass eine der beiden Koordinaten, Zeit oder Ort, redundant« sei (S. 50). Wie bitte? Auf dem Lichtkegel mag man solche Feststellungen treffen können, aber in seinem Inneren oder Äußeren? Auf S. 62 sind die »Komponenten des Universums« beschrieben und abgebildet, ohne dass ein Wort darüber verloren würde, dass es sich um die heutigen Energiedichten der Komponenten handelt. Und schließlich findet man auf S. 68 die Aussage, ein Phasenübergang sei »gekennzeichnet durch eine Änderung der Entropie«. Nun ja. Wer Pfeffer und Salz vermischt, ändert deren Entropie auch, aber ein Phasenübergang ist dabei nicht in Sicht. Gut gemeint, aber leider ganz untauglich ist die intuitive Erklärung für die Instabilität der räumlichen Krümmung des Kosmos (S. 63), denn die in den Horizont eintretende Dichte allein kann dafür nicht sorgen.

Und dann auch noch eine »schwangere kosmische Schlange«

Um all diese Befunde zusammenzutragen, genügt die Lektüre eines Viertels des Buchs. Und es wird nicht substanziell besser. Zum kosmischen Mikrowellenhintergrund steht auf S. 86: »Alle von der Thermodynamik abweichenden Eigenschaften, welche der Temperaturstrahlung aufgeprägt wurden, werden nun wie ein Fingerabdruck eingefroren.« Da gibt es weder von der Thermodynamik abweichende Eigenschaften, noch werden sie eingefroren. Auf S. 94 folgt dann, dass die Analyse der Temperaturschwankungen im Mikrowellenhintergrund ein völlig überraschendes Ergebnis zutage gefördert habe. Völlig überraschend kann es nur gewesen sein, wenn man die theoretischen Arbeiten dazu von 1970 nicht kannte. Das Kapitel über Relativität ist enttäuschend kurz, das für die allgemeine Relativitätstheorie grundlegende Äquivalenzprinzip kommt nicht vor, stattdessen enthält das Kapitel auf elf Seiten Bilder von Gravitationslinsen mit teils so unsäglichen Bezeichnungen wie »schwangere kosmische Schlange« (S. 176).

Bei Schwarzen Löchern wird von einem Sprung über die Singularität (S. 203) geredet, zu dem jedoch auch ein frei fallender Beobachter gar nicht ansetzen muss. Der Spaghetti-Effekt aufgrund des starken Gezeitenfelds wird auf S. 205 erwähnt, aber nicht benannt, dann auf S. 207 als unsinnige Folgerung bezeichnet. Die Anfänge der Erforschung der kosmischen Strahlung werden auf 13 Seiten ausgerollt, aber beim Ausblick auf die Gravitationswellenforschung bleiben »LISA Pathfinder« und »LISA« ungenannt.

Dabei kommt das Buch über weite Strecken im Plauderton daher und ist durchsetzt von Anekdoten und persönlichen Meinungen der Autoren. Besonders störend sind auch die vielen Anführungsstriche, wie sie in heutigen Unterhaltungen häufig in die Luft gemalt werden, meistens begleitet von dem Wort »gefühlt«. Das wirkt schriftlich wie mündlich so, als sollte die eigene Aussage gleich infrage gestellt werden.

Was soll ich nach allen diesen Mängeln und Ärgerlichkeiten noch schreiben? Hätte mich dieses Buch erwischt, als ich im Begriff war, einen Beruf zu wählen, es hätte mir die Faszination der Astroforschung ausgetrieben. Was für eine gründlich vertane Chance, wirkliche Faszination zu vermitteln!

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