»Weltgeschichte der Flüsse«: Flüsse als Vereinigung
»Mit den ersten Regenfällen hat sich die Welt für immer verändert«: So beginnt der Geowissenschaftler Laurence C. Smith sein Buch zur Geschichte der Flüsse. Dazu blicken wir rund vier Milliarden Jahre zurück, in jene Epoche, als sich auf der Erde die ersten Rinnsale und Bäche bildeten. Kaum verbanden sie sich zu Flüssen, begannen sie ihr ungeheures Werk, das sie bis heute fortsetzen: Berge abtragen und Tiefland auffüllen, Gesteine auflösen und Sedimente in Meere und Seen verfrachten.
Flüsse formen aber nicht nur die Gestalt der Erde, sie haben Entscheidendes zur Geschichte der Menschheit beigetragen. Dieses Buch zu lesen bedeutet, in jedem Winkel unseres Planeten und des Lebens die Macht der Flüsse zu erkennen.
Flüsse trennen – vereinen aber auch
Flüsse sind Handelswege, sie bewässern und düngen, stellen Energie bereit, ernähren Milliarden von Menschen, überschwemmen ganze Landstriche, spielen in Kriegen eine enorme Rolle – und die meisten Großstädte wurden an ihren Ufern gegründet. Flüsse als Grenzen sind praktisch, billig und oft brutal, denn in ihnen ertrinken Menschen, etwa im Rio Grande zwischen Mexiko und den USA oder im Limpopo, der Grenze zwischen Simbabwe und Südafrika, in denen Migranten von Flusspferden getötet und von Krokodilen verschlungen werden.
Gleich zu Beginn nimmt Smith die Leserinnen und Leser mit zu den vier großen alten Flusskulturen: an den Nil, ins Zweistromland, an Indus und Ghaggar, an den Jangtse und den Gelben Fluss. Nomaden hatten die fruchtbaren Täler, die diese Flüsse geschaffen hatten, für sich entdeckt und lernten, das Wasser für Ackerbau und Viehzucht zu nutzen. Wer nicht weiterzieht, sondern am Fluss bleibt, beginnt Dämme und Bewässerungsanlagen zu konstruieren, Schiffe und bald schon Städte zu bauen, Fischfang zu kultivieren und Wasserräder zu entwickeln. In diesen »Flussgesellschaften« (oder »hydraulischen Gesellschaften«) entstand eine Vielzahl neuer Berufe. Schon früh begannen die Menschen, den Wasserpegel zu messen, und lernten einzuschätzen, ob ein Jahr des Reichtums oder des Hungers vor ihnen lag. Smith beschreibt die »Nilometer« aus Stein, in die Markierungen zum Wasserstand eingekerbt wurden. Sie bieten die am weitesten zurückreichende schriftliche Aufzeichnung wissenschaftlicher Daten der Menschheit.
Dass Flüsse niemandem gehören, bedeutet, dass um die Wasserverteilung ständig gerungen werden muss. Immer steht die existenzielle Frage im Raum: Wer gräbt wem das Wasser ab? Allein den Nil teilen sich heute elf Nationen, den Jordan teilen sich Israel, Jordanien, der Libanon, die Palästinensischen Gebiete und Syrien. Flüsse erfordern selbst die Kooperation verfeindeter Staaten. Aktuell gibt es an die 500 Vereinbarungen zur gemeinsamen Nutzung grenzüberschreitender Flüsse. Tendenz steigend.
Der Autor kommt zum Schluss, dass Flüsse häufiger zu Vereinigung als zu Trennung beitragen. Dennoch werden sie als Waffen eingesetzt. Besonders grausam tat dies der chinesische Militär Chiang Kai-shek, der 1938 die Sprengung von Deichen am Gelben Fluss befahl, um japanische Invasoren zu stoppen. Die Überschwemmungen löschten ohne Vorwarnung das Leben von knapp 900 000 chinesischen Zivilisten aus. Vier Millionen wurden zu Flüchtlingen. Die Kaltschnäuzigkeit Chiang Kai-sheks trieb viele Chinesen in die Arme der Kommunisten, denn Mao schickte seine Soldaten zu Hilfe und siegte daraufhin im Bürgerkrieg. Ein Beispiel von vielen, wie mit Hilfe eines Flusses Politik gemacht wurde.
Auch mit Brücken lässt sich Macht demonstrieren. Etwa, wenn Putin eine Brücke bauen lässt, die Russland mit der annektierten Krim verbindet, um dann eigenhändig den ersten Lkw über das 18 Kilometer lange Bauwerk zu steuern.
Hochinteressant sind auch die Kapitel über die Staudammpläne und Flussumleitungen weltweit, über Fluch und Segen von Designerflüssen, über die Eingriffe in die Natur. Man liest von GERD, einer Talsperre in Äthiopien, welche die größte Afrikas sein wird, oder von Chinas gigantischem Süd-Nord-Wasserumleitungsprojekt.
Mitreißend berichtet Smith von seiner eigenen Forschung über die blauen Flüsse Grönlands: Schmelzwasser, das über die Eisdecke rauscht und sich hineinfrisst. Er lässt die Leser und Leserinnen an seinen Untersuchungen zum Klimawandel mit Hilfe von Hightech-Schwimmkörpern teilhaben, die Fließgeschwindigkeiten messen.
Wem nach der Lektüre des Buchs auf Grund der überwältigenden Faktenfülle der Kopf schwirrt, der sollte sich an einen Fluss setzen. Denn Smith berichtet von Studien, die belegen, dass das Geräusch von fließendem Wasser beruhigt.
Manchmal verliert der Text seine klare Fließrichtung und beginnt zu mäandern, vor allem in den USA-lastigen Kapiteln. Doch insgesamt ist das Buch eine Wucht, naturwissenschaftlich und kulturhistorisch.
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