Zwischen Ewigkeit und rasendem Wandel
Wer der Ansicht ist, die großen Philosophen hätten alles Wesentliche über die Zeit bereits gesagt, wird in diesem Büchlein eines Besseren belehrt. Dieser "Kleinen Psychologie der Grenzerfahrungen" gebührt das Verdienst, gut leserlich das Phänomen ungewöhnlicher Zeiterfahrungen im Licht der modernen Hirnforschung näherzubringen.
In drei Kapiteln erfährt der Leser einiges über subjektives Zeiterleben. Zu Beginn führt der Autor in die Phänomenologie und die wissenschaftliche Erklärung des Zeitgefühls ein. Dabei geht er auf das Empfinden von Beschleunigung, Verlangsamung sowie die erlebte Länge eines Augenblicks ein. Wittmann arbeitet heraus, dass das subjektive Zeiterleben von der Aktivität eines Menschen und der Menge der zur verarbeitenden Informationen abhängt. Ein ereignisarmer Sonntagnachmittag lässt den Abend im Schneckentempo heranrücken, während bei großer Betriebsamkeit "die Uhr rast".
Mit weniger Voraussicht
Sodann behandelt der Autor den Einfluss von Drogen auf das Zeitgefühl. Er erklärt die zeitdehnende beziehungsweise -beschleunigende Wirkung von Substanzen wie Meskalin, Psilocybin, Ayahuasca, Kokain und LSD. Interessant dabei ist, dass solche Drogen, indem sie die Sensibilität erhöhen, einen deutlich stärkeren Gegenwartsbezug erzeugen – auf Kosten des Zukunftsbewusstseins.
Weiterhin stellt Wittmann verschiedene Zeitgefühle in psychopathologischen Zuständen dar und erörtert sie aus neurowissenschaftlicher und pharmakologischer Sicht. Er informiert beispielsweise über den erlebten Stillstand bei Schizophrenie, über das Glücksgefühl der Zeitentgrenzung bei Epileptikern sowie über die subjektive Verlangsamung des Zeitflusses bei Depression. Gerne hätte man auch etwas über die empfundene Beschleunigung bei Manie gelesen, die ja oft in Verbindung mit Depression auftritt.
Am Ende widmet sich der Autor speziell der Erfahrung von Zeitlosigkeit. Sie kann sich etwa in mentalen Zuständen völliger Vertiefung in eine Sache einstellen, bei Nahtoderlebnissen und auch in der Meditation. Aufmerksamkeit spielt dabei eine besondere Rolle. Ihre Kultivierung und das Training, sich nicht ablenken zu lassen, kann das Erleben der Gegenwart so intensiv machen, dass man im Augenblick zu verharren scheint. In einem intensiv gelebten Moment kann sich so die Tür zur Zeitlosigkeit öffnen.
Leib und Seele
Hervorzuheben ist, dass Wittmann den Zusammenhang zwischen subjektiver Zeiterfahrung und Emotionen beziehungsweise Körpergefühl herausarbeitet. Zeit, Raum, Körper, Emotion und Ich bilden, so die Botschaft des Buchs, eine Einheit. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass erlebte Zeitlosigkeit oft mit einem Gefühl der Körpererweiterung, des Glücks und der Ich-Entgrenzung einhergeht. Man könnte also von einer Verkörperung und einer Eingrenzung der Zeit im Bewusstsein sprechen.
Das subjektive Erleben von Zeit betrifft, wie der Autor herausarbeitet, die übergreifende philosophische Frage nach dem Zusammenhang von Bewusstsein, Psyche und Leib. Erfreulich: Wittmann widersteht der Versuchung, das Bewusstsein ausschließlich als Resultat von Körperfunktionen zu deuten. Vielmehr lasse es sich bisher kaum erklären, wie er am Beispiel der Nahtoderfahrungen zeigt. Weder könne man es naturalistisch auf Körperfunktionen reduzieren noch von dem dualistischen Nebeneinander von Körper und Seele ausgehen, wie etwa der Nahtodforscher Pim van Lommel postuliert. Mit seinen engagierten und sachlichen Beiträgen über extreme Zeiterfahrungen bereichert dieses Buch die philosophische Deutung von Zeit und Bewusstsein und lässt sich mit Gewinn lesen.
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