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»Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht«: Offen fürs Unbekannte

Der Kinder- und Jugendpsychiater Oliver Dierssen vermittelt mit viel Fingerspitzengefühl, wie sich Missverständnisse zwischen Eltern und ihren Kindern lösen lassen. Eine Rezension.
Kinder machen Seilspringen auf der Straße

Eine Familiengründung geht mit vielen Hoffnungen und auch mit Wünschen einher, etwa nach Nähe, Einheit und Harmonie. Fremdheit hingegen ist etwas, das Eltern in der Beziehung zu ihren Kindern eher nicht erleben möchten. In seinem umfangreichen Elternratgeber räumt Oliver Dierssen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit derart verklärten Vorstellungen auf. Dem Autor zufolge ist Entfremdung kein Hinweis darauf, dass das Zusammenleben nicht funktioniert. Vielmehr handle es sich dabei um eine Chance, die Bedürfnisse des Nachwuchses besser zu verstehen. 

Wenn sich Eltern auf eine Erkundung des »Fremden« einlassen, können sie beispielsweise Liebe oder Kränkung erkennen, auch wenn Kinder diese Gefühle auf missverständliche oder frustrierende Weise äußern, und Machtkämpfe oder festgefahrene Verhaltensmuster innerhalb der Familie aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Dierssen möchte keineswegs Probleme von Kindern oder Jugendlichen identifizieren, sondern ihm geht es darum, für mehr Verständnis zu sorgen. Der Fokus liegt dabei auf dem Anteil, den Eltern zu der Entfremdung beitragen: Wenn Mütter oder Väter sich selbst beispielsweise wenig wertschätzen, können sie die Liebesbekundungen ihrer Kinder schlechter entschlüsseln. Und wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht ernst nehmen, können sie auch nicht von ihrem Kind erwarten, dass es diese respektiert. 

Ein interessantes Thema, das der Autor anspricht, sind Manieren. Anhand von anschaulichen Beispielen erklärt er, dass manche Eltern sich ihren Kindern gegenüber ironisch, abwertend oder unhöflich äußern, was ihnen oft aber gar nicht bewusst ist. Damit würden sie nicht nur ein schlechtes Vorbild abgeben, sondern ihren Nachwuchs auch verletzen. 

Der Autor verzichtet konsequent auf einen erhobenen Zeigefinger. Er fühltmit Eltern mit, deren Vorstellungen vom Familienleben sich nicht mit der Realität decken. In Fallbeispielen lässt er mitunter tief enttäuschte Erwachsene zu Wort kommen, die sich ihr Leben mit Kindern ganz anders ausgemalt haben. Schade ist, dass Dierssen diese Beispiele nicht im weiteren Verlauf des Buchs aufgreift und demonstriert, wie sich die familiäre Situation der Betroffenen durch passende Interventionen verbessert hat. 

Insgesamt vermittelt der Autor gekonnt seine eigene Expertise und die anderer Vertreter aus Wissenschaft und Praxis. Es finden sich hilfreiche Anleitungen, wie Eltern mehr Verständnis für die eigenen Emotionen und die ihrer Kinder aufbringen. Besonders beeindruckt der Leitfaden für ein Krisengespräch, in dem Eltern die Autonomie des Nachwuchses nicht verletzen und ihm gleichzeitig vermitteln, dass sie ihm immer beistehen. Allerdings wird im Verlauf der Lektüre auch klar, dass die Probleme zwischen Eltern und Kindern fließend ineinander übergehen und nicht so klar voneinander abgegrenzt werden können, wie die Aufteilung der Kapitel das zunächst suggeriert.

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