»Wer bestimmt, was wir essen?«: Wie wir essen und essen werden
Ernährung wird zunehmend komplex. Entwicklungen wie der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel lassen weitere Versorgungsengpässe mit Lebensmitteln fürchten. Hinzu kommen der bereits jetzt in Gang gesetzte Wandel des Essverhaltens in der westlichen Welt, etwa durch den Bedeutungszuwachs der vegetarischen und veganen Ernährung, sowie die wachsenden Belastungen in der Arbeitswelt, in der oft wenig Zeit für mehr als »Snacks« bleibt. Aber auch Influencerinnen und Influencer beeinflussen in manchen Teilen der Bevölkerung immer stärker, was auf den Tellern landet.
Diesen und anderen Themen widmen sich die Autorinnen und Autoren des Sammelbands »Wer bestimmt, was wir essen?«. Sie liefern damit einen guten Überblick über eine widersprüchliche Lage, in der die Ernährung in Deutschland zwar historisch betrachtet nie so reichlich verfügbar war und sicher erzeugt wurde wie heute, gleichzeitig aber viele Verbraucher und Verbraucherinnen verunsichert sind.
Essverhalten zwischen Tradition und Trends
Der Herausgeber des Buchs, der Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder, macht dabei bereits im ersten Beitrag klar, dass es ihm und seinen Mitverfasserinnen und -verfassern nicht um Empfehlungen für oder gegen einen bestimmten Produktions- oder Ernährungsstil geht. Vielmehr liegt der Fokus auf einer Bestandsanalyse: Warum essen wir, was wir essen? Welche Rollen spielen Tradition, Wirtschaft, Moral und die Medien dabei? Wie könnte die Ernährung von morgen angesichts des Rückgangs natürlicher Ressourcen und der wachsenden Weltbevölkerung aussehen?
Dieser objektive Blick in einer Zeit, in der die Ernährung nicht selten zum Gegenstand emotionaler Debatten wird, ist sehr erfrischend. So wird nämlich klar, weshalb viele – Konsumierende genau wie Produzierende – mit der gegenwärtigen Lage überfordert sind. Häufig herrscht nämlich eine Diskrepanz zwischen unseren Essgewohnheiten, -möglichkeiten und Ansprüchen. Der Beitrag der Historikerin Veronika Settele über Lebensmittelskandale hebt dies besonders hervor. Wünsche der Verbraucherinnen und Verbraucher, die Versprechungen der Industrie und die reale Situation unterscheiden sich nicht selten stark voneinander. Die Beziehung zu Lebensmitteln ist notgedrungen unpersönlich geworden. Handelsketten lassen sich oft kaum noch nachvollziehen, schon gar nicht im stressigen Alltag.
Das Buch zeigt allerdings auch auf, welche möglichen Alternativen die Zukunft der Ernährung bietet. Dazu zählen Innovationen im Bereich der Landwirtschaft wie der Einsatz von Biogasanlagen, Mykorrhiza oder Bakterienkulturen, die die Fruchtbarkeit von Böden erhalten und Humus aufbauen, aber auch die Förderung von Fleischersatz-Produkten aus Erbsen oder Getreide oder von Algen als neuartige Lebensmittel.
Natürlich, auch das machen die Verfasser und Verfasserinnen klar, hängen solche Innovationen immer stark von der Politik und der Akzeptanz der Verbraucherinnen und Verbraucher ab. Und kein Wandel ohne Kehrseite: Werde beispielsweise das Tierwohl gestärkt, Land ökologisch bewirtschaftet und der Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden in der Landwirtschaft minimiert, wie es die EU mit ihrem »Green Deal« für die kommenden Jahre vorhat, wird das höchstwahrscheinlich zu schwindenden Erträgen und steigenden Lebensmittelpreisen führen – und dadurch möglicherweise dazu, dass ärmere Menschen abgehängt werden.
Wer mehr über die Verzahnungen, Potenziale und Risiken der gegenwärtigen Ernährungssituation erfahren möchte, ist mit diesem Buch sehr gut bedient. Einziger kleiner Kritikpunkt: Die Quellen hätte man auch mit Fußnoten im Text sichtbar machen können.
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