Kritischer Blick aus der Zukunft
Die Tiefsee: Für Sylvia Earle ist sie »das blaue Herz des Planeten« – ein passendes Bild. Denn was passiert, wenn das Herz aus dem Takt gerät und sein Schlagen immer schwächer wird? So wie die heute 85-jährige Meeresforscherin zur Rettung der Meere und damit zur Klimakatastrophe Stellung bezieht, äußern sich auch fünf weitere bekannte Wissenschaftler und Denker zu diesem und anderen drängenden Problemen der Menschheit. Niedergeschrieben und von eindrucksvollen Fotos begleitet, finden sich die Statements in dem Buch »Wer wir waren«, das zum gleichnamigen neuen Dokumentarfilm von Marc Bauder und nach der »Zukunftsrede« des Schriftstellers Roger Willemsen erschienen ist. Diese sollte die Grundlage für ein Buch werden, in dem er einen kritischen Blick aus der Zukunftsperspektive auf unsere heutige Lebensweise werfen wollte. Dazu kam es jedoch nicht, Willemsen starb leider vorher.
Oben und unten – mit offenen Augen
Im Buch (gemeinsam mit Lars Abromeit) und Film des Regisseurs Marc Bauder kommen Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Gebieten zu Wort. Neben der Tiefsee geht es um Weltraum, Soziologie und Wirtschaft sowie Philosophie und Roboterethik. Gleich am Anfang des Buchs wirft der Astronaut Alexander Gerst einen Blick von außen auf unseren Planeten – im wahrsten Sinn des Wortes. Die eindrückliche Beschreibung seiner Gedanken auf seinen Weltraumreisen rütteln auf. Es sind Sätze wie: »Manchmal muss man etwas zurücktreten, um die Zusammenhänge zu sehen – das große Ganze (…) Die Erde gleicht einem winzigen Raumschiff, das mit knappen Ressourcen die Sonne umkreist.«
Sylvia Earle äußert sich hingegen in Form eines Reportage-Interviews. Hinter ihr liegen 50 Jahre Meeresforschung, und noch immer spürt man beim Lesen ihrer Antworten, wie sehr sie unter anderem das Sterben der Korallenriffe durch den Klimawandel schockiert. Obwohl sie das Schwinden der ganzen Artenvielfalt direkt vor ihren Augen miterlebt, resigniert sie nicht. Vielmehr sieht sie die Chance, jetzt aufzubrechen und etwas zu tun. »Wenn ein Kind aus dem 10. Stock eines Hochhauses fällt, versuchst du es aufzufangen, auch wenn (…) es anstrengend ist. So geht es mir mit den Meeren. Ich habe gesehen, wie der Ozean früher aussah (…) Ich muss mein Wissen weitergeben. Das ist (…) das große Geschenk, das uns Menschen von (…) Muscheln und Kraken abhebt: die Chance zur Einsicht.« Dafür steht ihr geplantes Forschungs-U-Boot, das Hoffnungsorte im Ozean zu einem Netz an Schutzgebieten verbinden soll.
»Utopie« lautet der Titel des dritten Kapitels. Was Wikipedia als Entwurf einer möglichen zukünftigen Lebensform oder Gesellschaftsordnung definiert, stellt der Ökonom Felwine Sarr am Beispiel seines Heimatkontinents Afrika dar. Eingeleitet werden seine Äußerungen mit den Worten »Mythos Wirtschaft. Verzerrung der Realität« und einem Foto. Die Auswahl des Motivs überrascht – und ist passend zugleich: ein mächtiger, verzweigter Baum in der Savanne, dessen blattlose Krone und abgeknickte Äste von seinem Niedergang zeugen. Sarr bleibt bei diesem Bild nicht stehen. Er mahnt zu einem Neuanfang und beschreibt seine Vision für ein Afrika mit Zukunft.
Dennis J. Snower, US-amerikanisch-deutscher Wirtschaftswissenschaftler und Präsident der »Global Solutions Initiative«, geht das Thema unter einem marktwirtschaftlich-sozialen Blickwinkel an. Dabei lässt er seine Gedanken in ein philosophisches Gespräch mit dem buddhistischen Mönch und Molekularbiologen Matthieu Ricard einfließen. Innovationen gelingen vor allem durch Kooperationen, sind sie sich einig. Anschließend stellt Snower genauer vor, wie ein Wohlstandskonzept für alle aussehen könnte. Er plädiert dafür, die Ökonomie nicht länger von ihrem soziokulturellen Umfeld abzukapseln. »Wir tun so, also ob die Wirtschaft naturgegeben ist. Dabei ist sie von Menschen gemacht und durchaus veränderbar.«
Der Weg weg vom Individualismus lasse sich also lernen. So wie die Autoren schon die ersten beiden Kapitel mit Zahlen und Grafiken ergänzen, geschieht das auch hier – wenngleich das Verstehen des dargestellten »Recoupling Dashboard« durchaus anspruchsvoll ist.
Die Posthumanistin Janina Loh beschreibt im Zusammenhang mit einer Reise nach Japan und Besuchen von Fukushima sowie Technik-Forschungseinrichtungen ihre Gedanken: Kann Technik neutral sein?, fragt sie. Der Mensch dürfe sich nicht wichtiger nehmen als andere Lebewesen. Sie ist überzeugt, mit jeder Produktion egal welcher Technologie gingen ethische Fragen einher. Beziehungen seien die Basis für alles. Aber könnten wir emotionale Beziehungen zu Robotern aufnehmen, etwa in der Pflege? Solche Fragen stellt die erst 37 Jahre alte Wissenschaftlerin in den Raum. Tatsächlich nehmen Roboter und künstliche Intelligenz immer mehr Raum ein. Wir müssen uns also zwangsläufig mit der Thematik befassen.
Mit einem Epilog in Form eines Briefs an »seine Enkelkinder« von Alexander Gerst endet das Buch. Zwar wird es den Leserinnen und Lesern nicht bei allen Protagonisten leicht gemacht, einen Lösungsansatz zu erkennen, doch lohnt es sich. Es ist ein Werk, das nicht zuletzt durch die Bilder nachdenklich stimmt und vielleicht auch mutlos machen könnte. Es appelliert aber auch an die eigene Verantwortung, regt an und zeigt: Wir haben noch eine Chance, unserer Welt eine Zukunft zu geben.
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