Kaum Platz auf der Arche
Neben der Corona-Pandemie und der Klimakrise ist das Artensterben eine weitere, wenn nicht die größte Katastrophe unserer Zeit. Der dramatische Verlust an Biodiversität bedroht die Grundlagen unserer Existenz, bekommt aber vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Der Biologe und Journalist Lothar Frenz möchte das ändern und liefert in »Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch« das nötige Rüstzeug, um sich zu informieren – und die Tragweite der Entwicklung zu ermessen.
Ein paar Fakten aus dem sehr lesenswerten Werk: Auf der Roten Liste der bedrohten Arten sei jedes vierte Säugetier, jeder achte Vogel und jede dritte Amphibie vom Aussterben bedroht, insgesamt mehr als ein Viertel der untersuchen Arten. »Die tatsächliche Zahl liegt wohl deutlich höher«, so Frenz. »Diese Entwicklung wird in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen: Bis 2050 könnten 40 Prozent aller Arten ausgerottet sein.«
Der Mensch als Bio-Snob
Wie konnte es dazu kommen? Es ist eine Beziehungsfrage: Wir Menschen definieren uns selten als Teil der Natur oder als eine unter vielen Arten. Dieser biologische Snobismus kommt uns teuer zu stehen. »Wir haben in unserem Handeln die Natur und ihre Prozesse nicht im Blick«, so Frenz. »Wir prägen die Erde mittlerweile so sehr, dass Wissenschaftler ein neues, nach uns selbst benanntes Erdzeitalter ausgerufen haben: das Anthropozän.«
Der Verlust an Biodiversität gehört mit dazu, wenn auch als eine von mehreren eng verbundenen Katastrophen. Das Artensterben wird durch die Klimakrise beschleunigt und verstärkt, während die Pandemie wohl auf den unkontrollierten Handel mit Wildtieren zurückzuführen ist. Eine Praxis, die also nicht nur die betroffenen Spezies bedroht, sondern auch uns. Und zwar ganz direkt. »Haben wir diese Wucht, den kommenden Wandel wirklich noch im Griff?«, fragt Frenz.
Er sieht uns an einem historischen Wendepunkt im Verhältnis zur Natur, der Beziehung zu unseren Mitbewohnern, den anderen Spezies. Aber selbst eine radikale Kehrtwende in unserem Tun würde nicht alle Arten bewahren können. Rettungsaktionen müssen sich notwendigerweise auf ausgewählte Spezies beschränken, wie Frenz auch aus eigener Anschauung berichtet. Als Journalist hat er viele engagierte Menschen getroffen, die dem Artenschutz Jahre, Jahrzehnte oder ihr ganzes Leben widmen.
»Mal sind Naturschützer Sexarbeiter und Kuppler, mal Eingliederungsbeauftragte und Bewährungshelfer, mal eine Mischung aus einfühlsamen Sozialpädagogen und vorausschauenden Sciencefiction-Visionären«, schreibt Frenz. Sie eint der Bedarf an maßgeschneiderten Methoden, Spezialkenntnissen – und Ressourcen. Es ist extrem aufwändig, seltene Singvögel auf Java zu erhalten, Kranichen per Ultraleichtflieger den Weg ins Winterquartier zu weisen oder Kondore zu züchten und ihnen dann mittels Schreiattacken Angst vor dem Menschen einzuflößen.
Charismatische Arten, die groß und beeindruckend oder besonders niedlich sind, haben hier die besten Karten, weil für ihre Rettung auch private Spendengelder fließen. Aber sind sie die beste Wahl? Vielleicht müssten wir uns eher auf all jene Arten fokussieren, die ganze Ökosysteme zusammenhalten. Oder auf sensible Spezies, die als lebende Indikatoren anzeigen, wenn etwas in ihrem Lebensraum im Argen liegt. Oder sollte man lieber versuchen, bereits ausgestorbene Arten auferstehen zu lassen, um mit ihrer Hilfe untergegangene Landschaften wiederzubeleben?
Jeder Punkt zieht weitere Fragen nach sich, wie Frenz fundiert aufschlüsselt. Was ist eigentlich Natur? Und was ist Wildnis? Was ist der »ursprüngliche« Zustand, den wir so oft zu erhalten versuchen? Zum natürlichen Charakter einer jeden Landschaft gehört Veränderung. Also sollten wir möglicherweise eher Prozesse fördern, die sich in der jeweiligen Dynamik einer Landschaft vollziehen. Anders gesagt: Was wir als schöne Natur empfinden, kann zu statisch sein.
Frenz wirft in seinem Buch mehr Fragen auf, als er definitive Antworten liefern kann – und wird damit der komplexen Thematik nur gerecht. Der Kampf gegen das Artensterben ist eine gesellschaftliche und globale Aufgabe, die jeden von uns angeht. »Lieben Sie die Natur?«, heißt es an einer Stelle. Eine scheinbar unverfängliche Frage, die wohl alle bejahen würden. Das reicht aber nicht aus, wie die nachfolgende Frage zeigt: »Wenn ja, wie äußert sich Ihre Liebe?«
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