Wert-volle Lektüre
"Jedes pädagogische Handeln ist wertgebunden": Über diesen Satz kann man eine Weile sinnieren in unserer bewegten Zeit, in der allerorten das Schlagwort "Werte" bemüht wird. In der Tat ist ein kompetenter Umgang mit "Werten" ein hervorragendes Mittel gegen die Ängste und Unsicherheiten dieser Tage. So könnte der Erscheinungszeitpunkt nicht besser sein für diesen Sammelband, der Wertebildung (-vermittlung) in verschiedenen pädagogischen Kontexten beleuchtet – von der Familie über Kita und Schule bis hin zu Jugendarbeit und Peergroup.
Der Leitfaden richtet sich an Praktiker, die in verschiedenen Kontexten mit Bildung befasst sind. Im Vorwort beschreibt Liz Mohn, stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmannstiftung, Werte als einen Kompass, an dem wir unser Handeln ausrichten. Die Projektleiter Stephan Vopel und Julia Tengeler differenzieren die Bedeutung von Werten nach individueller und gesellschaftlicher Ebene. Verschiedene Autoren beleuchten sodann die einzelnen sozialen Instanzen und folgen dabei methodisch im Wesentlichen dem immer gleichen Aufbau: Nach einer Einleitung ins thematische Umfeld schlüsseln sie Ziele, Rahmenbedingungen sowie die wichtigsten Theorien, Konzepte und Studien auf. Es folgen Beispiele für bewährte Praktiken und ein Fazit mit Empfehlungen. Eine Literaturliste schließt das jeweilige Kapitel ab – fast, denn nun erscheinen nochmals 2-3 Praxisbeispiele in etwas ausführlicherer Form, teils samt eigener Quellenliste, und ein themennahes Interview mit einer Fachperson. Ein "internationaler Vergleich" der Wertebildung und ein Schlussteil mit Anregungen und Empfehlungen runden den Band ab.
Die Schule soll's richten
In Aufmachung und Stil zeigt sich das Werk ausgesprochen lesefreundlich. Großzügiger Einsatz der Schmuckfarbe Blau trägt zur ansprechenden Gestaltung bei. Sekundenschnell hat der Leser bei Bedarf die übersichtlichen Tabellen wiedergefunden. Die Artikel zu den Themenfeldern sind in sich schlüssig und können gut für sich stehen. Besonders spannend wird es in der Gesamtschau, die verdeutlicht, wie jedes Umfeld ganz andere Dinge in den Fokus rückt und unterschiedliche Anforderungen stellt. Da sind etwa die Konflikte in und mit multiethnischen Familien, der Einfluss von Medien auf Heranwachsende, die Herausforderungen der globalisierten "Multioptionengesellschaft" oder die wachsenden, teils widersprüchlichen Erwartungen an die Erziehungsfunktion der Schule.
Die große Stärke des Buchs liegt darin, all diese Inhalte klar und praxisorientiert wiederzugeben. Vorwissen ist nicht nötig: Selbst ein erziehungswissenschaftliches "Basic" wie Piagets Theorie der Moralentwicklung umreißen die Autor(inn)en kurz und anschaulich. Sie passen die Gliederung jeweils leicht ihrem Fokus und ihren Anforderungen an, was zu Klarheit und Fokussierung beiträgt. Mitunter geben sie auch kritische Hinweise, etwa zur eingeschränkten Übertragbarkeit der sozialen Impftheorie auf den Wertekontext und deren wissenschaftliche Belastbarkeit. Irritierend dagegen wirkt der Umgang mit den Praxisbeispielen. Warum sie zunächst im Abschnitt "Gute Praxis" auftauchen und dann nach Kapitelende nochmals, erschließt sich nicht zwingend. Zumal mitunter an beiden Stellen die gleichen Projekte vorgestellt werden. Hilfreich wäre zudem eine (Link-)Liste mit weiteren regionalen Projekten.
Mal wieder die USA
Eine vertane Chance stellt der Umgang mit internationalen Faktoren dar. Bedauerlich, dass der – mehrfach betonte – Aspekt interkultureller und interreligiöser Konflikte nicht weiter anklingt. Die Autoren identifizieren diese als bestimmend in Familie, Schule sowie gesamtgesellschaftlich. An einer Stelle präsentieren sie sehr überraschende Erkenntnisse zu gemeinsamen Werten der Weltregionen und -religionen. In den verwendeten Quellen findet das jedoch praktisch keinen Widerhall. Besonders das Kapitel "Wertebildung im internationalen Vergleich" richtet seinen Blick wie gewohnt auf die USA und ausgewählte europäische Nachbarn. Gerade weil der Fokus auf kultur- und religionsübergreifender Wertkompetenz liegt, wäre ein Blick in fremde, aber für unsere Gesellschaft relevantere Kulturen und Religionen allemal spannender und aufschlussreicher gewesen als die Nabelschau "in sieben westlichen Ländern".
Insgesamt ist "Werte lernen und leben" dennoch ein gelungener Praxisleitfaden. Der Leser erhält einen guten fachlichen Überblick über das Thema Werterziehung. Allen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, ist der Band sehr zu empfehlen.
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