Maschinenwirklichkeit
Die Geschichte des Computers ist eine des Immer-kleiner-und-immer-schnellers-Werdens. In den 1950er Jahren mussten die Programmierer am legendären UNIVAC, einem zimmergroßen Ungetüm mit Zahnrädern, Stangen, Hebeln und Federn, noch körperliche Arbeit leisten, um Rechenoperationen durchzuführen. Heute tragen wir smarte Hochleistungsrechner à la Fitness-Tracker oder Smartphone in der Hosentasche mit uns. David Gugerli, Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich, erzählt diesen Teil der Computergeschichte in seinem Buch nach.
Gugerlis Ansatz ist kein technikgeschichtlicher, sondern eher ein techniksoziologischer. Wie der Titel bereits anzeigt, geht es ihm nicht um die Frage, wie der Computer in die Welt, sondern wie die Welt in den Computer kam. Hierfür musste sie erst auf maschinenlesbares Format gebracht werden. Es brauchte ein neues Abbild der Wirklichkeit, eine Datenverarbeitung vor der Datenverarbeitung. Menschen übertrugen Erhebungsbögen im US Bureau of Census in Zahlenkodes, übersetzten sie per Hand ins Lochkartenformat, verzahnten Verfahrensabläufe miteinander. »Die Welt konnte nur dann in den Computer gebracht werden, wenn sie die informationelle Verarbeitungsgeschwindigkeit in den Wohnungen und Fabriken dieser Welt erhöhen ließ«, schreibt Gugerli. »Und das war erst möglich, wenn man Wege fand, die Welt anders als bisher zu formatieren.« Diese Eingabeprozeduren waren mitunter ziemlich mühsam, sie verlangten den Beteiligten – vom Volkszähler bis zum Testpiloten – neue Routinen und jede Menge Geduld ab.
Unerträgliche Langeweile
Das eigentliche Rechnen verschwand in der Blackbox des Computers. Rechenintensive Berufsfelder wie Versicherung, Buchhaltung oder Lagerbewirtschaftung, deren Kalkulationen bereits zuvor durch Buchungsautomaten, Registriermaschinen und Analogrechner mechanisch substituiert worden waren, sahen sich angesichts der Computerisierung mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. »Wo sich das Rechnen ganz ohne Wellen, Sprossenräder, Nocken und Zähler im Innersten einer Blackbox ereignete und immer mehr einer maschinengestützten Sortierarbeit zu gleichen begann, da wurde es unerträglich langweilig«, resümiert der Autor.
Die Rechenmaschinen bewirkten auch einen kulturellen Wandel der Gesellschaft, konstatiert Gugerli. Als epochemachend sieht er das Mission Control Center der amerikanischen Rahmfahrtbehörde NASA an. Das computergestützte Kontrollzentrum in Houston mit seinen vielen Bildschirmen und Darstellungsmöglichkeiten habe es den Maschinen nicht nur überlassen, Raketenflüge zu berechnen, sondern auch, die Raumfahrt zu überwachen und zu kontrollieren. »[Dies wurde] zu einem Modell, ja zu einer fixen Idee für alle, die gerne an Überwachung, Kontrolle und Steuerung dachten«, schreibt der Autor. Houston wurde zur Blaupause für die Beaufsichtigung von Großstädten wie London oder Rio, wo Bilder der Verkehrskontrolle in einem Operations Room zusammengeführt werden und das Sicherheitspersonal auf riesige Bildschirme schaut. Die »rechnergestützte Kontrolle der Raumfahrt im Modus einer personal- und apparateintensiven Überwachung« sei vom Mond auf die Erde übertragen worden, so Gugerli.
Der Autor stellt verblüffende Bezüge zwischen der Computer- und der Überwachungstechnik her. Darin liegt eine große Stärke seines Buchs, aber auch eine Schwäche. Denn wo immer er die techniksoziologische Warte verlässt und einen Ausflug in wissenschaftliche Nachbardisziplinen unternimmt, wird seine Argumentation dünn. Der Rekurs auf Luhmanns Systemtheorie beispielsweise wirkt in der Kürze der Darstellung etwas unterkomplex. Die sich aufdrängenden Fragen, was es bedeutet, wenn immer mehr Gegenstände vom Auto bis zur Zahnbürste computerisiert werden, und ob sich die Kontrollzentren in der Gesellschaft womöglich vervielfältigen, behandelt Gugerli leider nicht. Trotz dieser kleineren Mängel ist es ein instruktives, gut geschriebenes Buch, das sich auf ein profundes Quellenstudium stützt und überzeugende Perspektivwechsel bietet.
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