Im Dauerkrieg mächtig geworden
In der Geschichtswissenschaft gibt es viele historische Phänomene, die zwar als solche erkannt, nicht aber in letzter Konsequenz hinterfragt werden. So hat bereits der Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) die Frage aufgeworfen, warum nicht die zivilisatorisch viel höher stehenden Chinesen Amerika entdeckt und expansiv in die Welt ausgegriffen hätten, sondern die Europäer.
Was der Göttinger Gelehrte vor rund 250 Jahren en passant in den Raum stellte, dem geht der amerikanische Wirtschaftshistoriker Philip T. Hoffman in diesem Buch genauer auf den Grund. Er legt Faktoren dar, die dazu führten, dass die Europäer kurz vor dem 1. Weltkrieg fast den ganzen Globus beherrschten. Dabei beweist er hohen analytischen Sachverstand und profunde Kenntnis der Materie. Hoffmann lehrt am California Institute of Technology.
Von der Arkebuse zum Maschinengewehr
Einen wesentlichen Grund dafür, warum die Europäer um 1914 rund 84 Prozent des Weltterritoriums kontrollierten, sieht Hoffman in der militärischen Überlegenheit des Abendlands. Zwar hätten die Chinesen das Schießpulver erfunden, doch seien es die Europäer gewesen, die die "gunpowder technology" zur Anwendungsreife und steten Weiterentwicklung brachten. Dabei spielte der wissenschaftlich-technische Fortschritt in der frühen Neuzeit eine maßgebliche Rolle.
Hauptantrieb dieser Entwicklung war ein militärischer Wettbewerb, der unter den geografischen und politischen Bedingungen Europas eine besondere Dynamik entfaltete. Nach dem Tod Karls des Großen, schreibt der Autor, habe es kein einheitliches Imperium, keine übergeordnete Macht mehr gegeben, die den Kontinent hätte befrieden können. Stattdessen sei der Kontinent ein bunter Flickenteppich von Regionalmächten gewesen, die miteinander ständig um Ruhm, Ehre und Macht rangen.
Aus dieser Konkurrenz erwuchs laut Hoffman eine besondere Form des militärischen Wettbewerbs – er bezeichnet sie als Turnier –, "bei der die Beteiligten unter den richtigen Bedingungen enorme Anstrengungen unternahmen in der Hoffnung, einen bestimmten Gewinn einzufahren". Dies führte zu einem anhaltenden Wettrüsten, begünstigt von militärischen Innovationen und den ebenfalls wettbewerbsorientierten Märkten, was dafür sorgte, dass nie ein einzelnes Land die Macht über den ganzen Kontinent errang. Zugleich verhinderte dieses Turnier, dass der Anteil der Militärausgaben am Nationalprodukt sinken konnte – anders als beispielsweise in China. Zudem verfügten Europas Fürsten über gut ausgebaute Finanzsysteme, dank derer sie sich immer wieder neues Geld für Feldzüge beschaffen konnten.
Gewalthaufen, Tercios, Lineartaktik
Häufige Kriege, in denen nach dem Prinzip "learning by doing" ständig neue Waffensysteme, Strategien und Taktiken erprobt wurden, anhaltend hohe Investitionen ins Militär sowie die Verbreitung technischer Innovationen trugen maßgeblich zur militärischen Überlegenheit der Europäer bei. Diese Dominanz tritt klar zutage, wenn man – wie Hofmann – die Entwicklung der europäischen Nationen mit jener von anderen Zivilisationen vergleicht.
Zwar habe es zu Beginn der Frühen Neuzeit mit China und Japan auch außerhalb Europas militärisch starke Imperien gegeben. Doch nirgendwo, so Hoffmans These, seien die Rivalitäten untereinander so intensiv und virulent, seien Glaubenseifer, Geschäftssinn und imperiales Sendungsbewusstsein so ausgeprägt gewesen wie im zersplitterten Abendland. Während sich Japan in der Edo-Zeit (1600-1868) von der Außenwelt abschottete, und während Chinas Kaiser angesichts ihrer Dominanz in Ostasien sowie mangels äußerer Bedrohung keine besondere Veranlassung sahen, ihre Schusswaffentechnik aggressiv weiterzuentwickeln, rüstete Europa permanent auf.
Hoffman erfindet das Rad zwar nicht neu; vieles, was er ausführt, wurde jüngst etwa von Geoffrey Parker oder Ian Morris behandelt. Es gelingt ihm jedoch, die Debatte durch neue Fragestellungen zu bereichern und weiter zu fundieren. Ein lesenswertes Buch mit interessanten methodischen Ansätzen.
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