Direkt zum Inhalt

Naturerkenntnis im Meinungsstreit

Das Buch versammelt zehn Beiträge, die im Rahmen eines interdisziplinären Symposiums über "Denkvoraussetzungen der Wissenschaften" entstanden sind. Theologen, Philosophen und Einzelwissenschaftler fragen, inwieweit die moderne Naturforschung zu objektiven Erkenntnissen fähig ist. Das Symposium fand in der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen statt – schon der Veranstaltungsort legt mithin die Vermutung nahe, dass der Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften relativiert werden soll, um der Religion ein gewisses Mitspracherecht zu verschaffen.

Doch was immer die Motive sind: Es schadet gar nicht, an die mehr oder weniger stillschweigenden Randbedingungen empirischer Forschung zu erinnern – erst recht, wenn das auf respektable Weise geschieht. Darum wünsche ich dem Buch mehr Leser, als der exorbitante Preis zulässt.

Tatsache und Meinung

Das stärkste Argument dafür, dass die wissenschaftlichen Resultate "stimmen", ist ihr schlagender Erfolg in der praktischen Anwendung. Darum bestreitet keiner der Autoren, dass Physik und Technik wesentliche Aspekte der Wirklichkeit richtig erfassen. Allerdings, vulgärtheologisch gesprochen: Der Teufel steckt im Detail. Der theoretische Physiker Otfried Gühne von der Universität Siegen referiert anhand des Doppelspaltversuchs geschickt und eingängig den Unterschied zwischen der "orthodoxen" Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik und der "ketzerischen" Minderheitsmeinung der Anhänger von David Bohm (1917–1992). Der Vergleich mit religiösem Dogmenstreit ist hier möglich, weil es sich um unterschiedliche Deutungen derselben Tatsachen handelt, also um Meinungen, die den praktizierenden Physiker eher kalt lassen – so sehr sie jeden naturphilosophisch Interessierten zur Stellungnahme herausfordern.

Auch um die darwinsche Evolutionslehre tobt, seit es sie gibt, ein heftiger Meinungsstreit. Der Biologie-Professor Siegfried Scherer von der Technischen Universität München kritisiert die heute vorherrschende "evolutionäre Synthese" mit Argumenten, die seinem erklärten Wunsch nach einer Versöhnung von Biologie und Religion entspringen. Der "methodische Atheismus" der Evolutionslehre, schreibt er, dürfe nicht mit der Leugnung Gottes gleichgesetzt werden. Auch sei die "materialistisch-reduktionistische" Methode der Naturwissenschaften ungeeignet, das Rätsel der Lebensentstehung zu lösen; etwas "Geistiges" müsse hinzukommen, wie es der Informationsbegriff andeute.

Scherer ist gewiss kein tumber Kreationist; dafür weiß er über die Erkenntnisse der Biologie und die Methodik der Naturforschung viel zu gut Bescheid. Dennoch: Seine Ansicht, die "Makroevolution" – die vermeintlich sprunghafte Entstehung ganz neuer biologischer Phänomene – sprenge das darwinsche Schema, erinnert verflucht an das gleichlautende Argument der "Intelligent Design"-Adepten. Mehrmals beruft sich Scherer auf den Philosophen Thomas Nagel, der in seiner wirren Kampfschrift "Geist und Kosmos" dem Intelligent Design Beifall zollt.

Großer begrifflicher Aufwand

Der Aachener Theologie-Professor Ulrich Lüke sucht – man verzeihe den Kalauer – eine Lücke, um ins naturalistische Weltbild nicht nur irgendetwas Nichtmaterielles, rein Geistiges einzuschmuggeln wie Scherer, sondern direkt den jenseitigen Gott. Mit großem begrifflichen Aufwand versucht Lüke die "Inkarnation", also die Fleischwerdung Gottes in Gestalt seines Sohnes, in den "Mesokosmos" – unsere Alltagswelt – einzuführen. Denn schließlich, so Lüke, verlange ja auch die moderne Naturwissenschaft von uns, hochabstrakte Wahrheiten über Makro- und Mikrokosmos in den uns unmittelbar zugänglichen Mesokosmos zu "transformieren". Wenn man Lükes umständliche Rhetorik auf den Punkt bringt, sagt er sinngemäß: Wenn wir an unsichtbare Teilchen glauben, warum nicht auch an die Menschwerdung Gottes?

Die meisten Beiträge des Bandes verfolgen kein theologisches Ziel, sondern weisen auf die methodischen Vorbedingungen einzelner Wissenschaften hin. Am interessantesten fand ich den Text des Umweltforschers Hermann Held von der Universität Hamburg. Er untersucht Probleme der Klimaökonomik; sie beziffert den ökonomischen Wert von Umweltmaßnahmen. Wie Held eingehend zeigt, erfordern solche Schätzungen wegen der enorm komplexen Zusammenhänge großen methodischen Aufwand. Sie liefern naturgemäß unsichere Prognosen und umstrittene Wahrscheinlichkeitsaussagen, die aber für eine vorausschauende Umweltpolitik dennoch unabdingbar sind.

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Ein langes Leben ist kein Zufall

Wie schafft man es, besonders alt zu werden und dabei fit und gesund zu bleiben? Die Altersforscherin Eline Slagboom weiß, welche Faktoren wir beeinflussen können - und welche nicht. Außerdem in dieser »Woche«: Wie Spannbetonbrücken einfach einstürzen können - und wie man das verhindern kann.

Gehirn&Geist – Best of Gute Frage!

In der Rubrik »Gute Frage!« beleuchten Expertinnen und Experten aus Psychologie, Psychotherapie, Hirnforschung, Verhaltensbiologie und angrenzenden Fächern jeweils einen Aspekt, der vielen von uns Rätsel aufgibt. Dieses Dossier gibt kurze und knappe, aber fundierte, Antworten auf Fragen aus den Bereichen Denken, Fühlen, Psyche und Gehirn. So finden sich informative Antworten zu den Fragen: Haben nette und kluge Leute weniger Vorurteile? Warum schämen wir uns fremd? Sind Einzelkinder besonders narzisstisch? Gibt es verschiedene Lerntypen? Kann Ekel Lust bereiten?

Spektrum - Die Woche – »Entschuldigung, da verstecken wir uns hinter einer billigen Ausrede«

Der bedeutende Philosoph Immanuel Kant hätte am 22. April 2024 seinen 300. Geburtstag gefeiert. Kann der kategorische Imperativ und sein philosophisches System auch noch auf die Themen des 21. Jahrhunderts angewandt werden? Außerdem: Ursachen und Umgang mit »Ghosting« in der Welt des Online-Datings.

Schreiben Sie uns!

3 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.