»Wie werden wir in Zukunft sterben?«: Der Tod im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Die Futurologie oder Zukunftsforschung, deren Aufgabe die systematische und kritische wissenschaftliche Untersuchung von Fragen möglicher zukünftiger Entwicklungen ist, hat in Deutschland in akademischer Hinsicht kaum Relevanz. Die Disziplin hat aktuell nur einen Lehrstuhl an einer privaten Hochschule vorzuweisen, während ein zweiter Lehrstuhl an der RWTH Aachen nach 2013 nicht wiederbesetzt wurde. Obschon die Zukunftsforschung als eigene Disziplin kaum institutionalisiert ist, befasst sich eine ganze Reihe von akademischen Strömungen mit Veränderungen, die – basierend auf aktuellem oder erwartbarem Fortschritt – auf uns zukommen könnten. Von diesen Veränderungen ist neben Bereichen wie dem Arbeitsmarkt, dem Zwischenmenschlichen und der Mobilität auch das Ende des Lebens betroffen.
Ausgehend von dieser Erkenntnis, gehen die Herausgeber Wolfgang George (er lehrt als Psychologe an der Technischen Hochschule Mittelhessen) und Karsten Weber (Koleiter des Instituts für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung der OTH Regensburg) der Frage nach: »Wie werden wir in Zukunft sterben?« Die Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze aus Gebieten wie Medizin, Philosophie, Soziologie und Informatik ist in drei Abschnitte eingeteilt. Der erste Teil betrachtet die gesellschaftliche Ausgangslage, der zweite die Patientenversorgung, und der dritte Teil wirft ein Schlaglicht auf die Implikationen der neuesten Entwicklungen der Digitalisierung für das Ende menschlichen Lebens.
Das Werk entfaltet eine Reihe interessanter soziologischer Fragestellungen zur Vielfalt des Sterbens in der aktuellen Gesellschaft. Während in den vergangenen Jahrzehnten in der westlichen Welt der Tod vor allem in Altenheimen und Krankenhäusern institutionalisiert und somit wenig sichtbar war, hat sich die Situation durch die Covid-Pandemie und vor allem den Krieg in der Ukraine verändert. Während historisch gewisse Formen des Sterbens positiv wahrgenommen wurden (etwa der Heldentod für das Vaterland), leben wir heute in einer »postheroischen« Gesellschaft, in der solche Bewertungen des Todes kaum mehr existieren.
Tod ohne Sinn?
Thorsten Benkel attestiert daher der westlichen Welt eine fehlende Sinnaufladung des Todes, die auch mit der schwindenden Bedeutung der Religionen einhergehe. Er stellt die Frage in den Raum, ob Diskussionen über die Sterbehilfe und das selbstbestimmte Ende des Lebens an dieser Situation etwas ändern könnten – vor allem vor dem Hintergrund, dass hochbetagte Menschen nach einem erfüllten Leben der Familie und der Gesellschaft nicht zur Last fallen wollen.
Kontrastiert werden solche lebensnahen und erwartbaren Fragen mit interessanten, bisweilen aber etwas weit hergeholten Überlegungen im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung. So könnte es im Jahr 2045, das als Fixpunkt für die Zukunftsvisionen des dritten Kapitels dient, möglich sein, in den Monaten vor dem zu erwartenden Tod eine große Menge Daten über den Sterbenden zu sammeln und so in einem Metaversum mit Hilfe künstlicher Intelligenz einen Avatar zu erstellen, der nach dem Tod der betroffenen Person »weiterlebt«. Ein solcher Avatar könnte etwa Gespräche mit Hinterbliebenen führen und so deren Leid ob des Verlusts lindern.
»Wie werden wir in Zukunft sterben?« eröffnet eine Debatte, die trotz der traditionellen Tabuisierung des Themas notwendig ist. Neben den bekannten Fragestellungen rund um Pflege, Palliativversorgung und Sterbehilfe liefert das Werk einige sehr originelle Ansätze, etwa zur Darstellung des Todes in Videospielen. Die Aufsätze genügen wissenschaftlichen Maßstäben, sind aber dennoch für Leser ohne Vorkenntnisse in den jeweiligen Disziplinen gut lesbar und verständlich. Wer also einen Ausblick auf eine mögliche Zukunft jener Tatsache, vor der wir alle irgendwann stehen, erhalten möchte, dem sei dieser Sammelband wärmstens empfohlen.
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