Ein langer Weg
»Es gibt schwierige Vaterländer, eines davon ist Deutschland.« Diesen Satz von Bundespräsident Gustav Heinemann aus seiner Antrittsrede vom 1. Juli 1969 stellt Heinrich August Winkler an den Anfang seines neuen Buchs über die Deutschen. »Wie wir wurden, was wir sind« ist eine kurze Übersicht über den langen Weg, den die Deutschen zurücklegen mussten, um ihren dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien zu finden.
Sichtachsen in die Geschichte schlagen
Viele Passagen des Buchs sind zwar nur eine Auffrischung dessen, was der international renommierte Historiker in seinen voluminösen Hauptwerken »Der lange Weg nach Westen« (2000) und »Die Geschichte des Westens« (2009-2016) bereits in tiefgründiger Ausführlichkeit analysiert hat. Durch die konzise Verknappung spitzt er allerdings manche Einsicht ein bisschen mehr zu. Etwa wenn er im Bereich der Sicherheitspolitik darauf hinweist, dass die Nichteinhaltung des Versprechens der Berliner Regierung, zwei Prozent unserer Wirtschaftskraft für die Verteidigung auszugeben, die politische Zuverlässigkeit Deutschlands bei europäischen Bündnispartnern in Frage stellt.
In neun übersichtlichen Kapiteln schlägt Winkler Sichtachsen in die deutsche Geschichte, zeichnet langfristige Entwicklungslinien nach und erörtert historische Schlüsselereignisse. Das mittelalterliche Reich der Deutschen, die Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert, der Dualismus zwischen Österreich und Preußen, das Scheitern der Revolution 1848, die staatliche Einheit Deutschlands durch die bismarcksche Reichsgründung 1871, die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918/19 und deren Scheitern, die deutsche Katastrophe 1933 bis 1945, die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen durch die Siegermächte, die Teilung Deutschlands in Ost und West sowie die friedliche Revolution von 1989 und die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten – das alles sind prägende Stationen auf dem Weg Deutschlands zu einem souveränen Nationalstaat.
Winkler schöpft aus einem enzyklopädischen Fachwissen. Mit einem Blick für die großen Zusammenhänge versteht er es meisterhaft, Ereignisse und Trends historisch plausibel einzuordnen und in einer lesbaren Sprache zu artikulieren.
Doch der »politisch interessierte Historiker« Winkler blickt nicht nur zurück. Was ihn umtreibt, ist die Frage, inwieweit die deutsche Geschichte in die Gegenwart wirkt und wie die Politik heute mit dem historischen Erbe umgeht. Zwar stelle das wiedervereinigte Deutschland durch die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis und die europäische Integration kein europäisches Sicherheitsproblem mehr dar. Allerdings sieht Winkler durchaus auch Tendenzen, die Anlass zur Sorge geben.
Der Bundesrepublik nach 1990 hält er in puncto Moralpolitik den Spiegel vor und warnt vor neuen deutschen Sonderwegen. Deutschland, so der Deuter der politischen Gegenwart, solle sich nicht als »moralische Leitnation Europas« aufschwingen. Die Neigung der Deutschen, angesichts einer »schuldbeladenen Vergangenheit« das eigene Tun moralisch zu überhöhen und sittlich besser sein zu wollen als die anderen Nationen, wirke auf diese ebenso befremdlich wie Deutschlands verkappte Führerschaft in der EU.
Zudem, mahnt Winkler, agiere die Bundesrepublik häufig viel nationaler, als es ihrem europäischen Solidaritätspathos und der Beschwörung der Bündnistreue entspreche. Als Beispiele nennt er den deutschen Alleingang im Flüchtlingssommer 2015 und das Projekt »Nord Stream II«. Beim Import von Erdgas habe Deutschland eine wachsende Abhängigkeit von Russland und gravierende Nachteile für seine osteuropäischen Nachbarn in Kauf genommen.
Winklers historisches Essay zeugt von hoher analytischer Tiefenschärfe, und es hält politische Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart bereit. Eine überaus empfehlenswerte Lektüre – nicht nur für alle politisch Interessierten, sondern auch für diejenigen, die Politik aktiv betreiben.
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