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Muss die Wirtschaft immer weiter wachsen? Der Ökonom Tim Jackson erklärt, warum ein gut gewähltes Gleichgewicht lohnenswert sein kann.

Davos im Januar 2020. Corona scheint noch in weiter Ferne. Sebastian Kurz betritt das Podium, lobt die hungrigen Ökonomien, fordert Optimismus, Innovation und Wachstum. Denn, so der damalige österreichische Bundeskanzler, »Zufriedenheit zahlt keine Pensionen«. »Ist das tatsächlich so?«, fragt sich der Bestsellerautor Tim Jackson und lädt Leserinnen und Leser auf einen Streifzug durch das zu Pandemiezeiten »flüchtig erblickte Hinterland« einer Wirtschaft ohne Wachstum ein, um ehrlich über die Lage der Menschheit nachzudenken.

Ein ökonomisches Märchen

Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der Wachstumsbegriff, der, so der Autor, zu einem Mythos verklärt wurde, aber im Grunde nicht mehr ist als ein Märchen, das eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den möglichen Bedingungen gesellschaftlichen Lebens verhindert. Der Universitätsprofessor für nachhaltige Entwicklung erläutert das unter anderem am Beispiel des Bruttoinlandprodukts (BIP), das seit 1953 als internationaler Standard zur Messung der Wirtschaftsleistung eines Landes dient.

Bereits Robert F. Kennedy griff in einer Wahlkampfrede im Jahr 1968 dieses Thema vor Studierenden auf, um ihnen zu erläutern, dass das BIP auch Wirtschaftsaktivitäten umfasst, die nicht dem Wohl der Gesellschaft dienen: angefangen von der Zerstörung der Mammutbäume über den Bau von Gefängnissen und Atomsprengköpfen bis hin zu gewaltverherrlichenden Fernsehprogrammen. Die Gesundheit der Bürger, die Qualität der Erziehung, die Integrität von Beamten und die Klugheit öffentlicher Debatten werden im BIP hingegen nicht erfasst. Warum also lassen wir uns von einem solchen Wirtschaftswachstum den Weg weisen?

Jackson analysiert, wie sich das kapitalistische Narrativ der Evolutionstheorie Darwins bediente, um Egoismus, den Kampf jedes gegen jeden und die Ausbeutung des Planeten zu rechtfertigen. Dass die Stärksten überleben, ist demnach nicht nur unvermeidbar, sondern, richtig organisiert, auch profitabel. Zugegeben, solange Mangel herrscht, ist Wachstum notwendig und gesellschaftlich gewünscht. Danach muss aber ein neuer Mangel her, der den Motor der aufgebauten Konsumgesellschaft am Laufen hält, eine permanente Unzufriedenheit und die ständige Überwerfung des Alten zu Gunsten des Neuen: »Denn der Konsumismus lebt von dem Versprechen, dass im Neuen die Verheißung einer strahlenderen und glänzenderen Welt für uns und unsere Kinder liegt.«

Knappheit, argumentiert der preisgekrönte Dramatiker zahlreicher BBC-Radiobeiträge, muss nicht zwingend mit Konkurrenzkampf begegnet werden. So konnte beispielsweise die Biologin Lynn Margulis in ihren Forschungsarbeiten zeigen, dass Evolution nicht der erbarmungslose Kampf ums Überleben ist, wie die Neodarwinisten es darstellen. Vielmehr basieren Artenreichtum und die Grundlage allen irdischen Lebens auf Symbiose, gemeinsamer Anstrengung und Kooperation: »Evolution ergibt sich aus gemeinschaftlichen Antworten auf sich wandelnde Lebensbedingungen.« Es gibt zwar Kampf, Tod und Räubertum in der Natur, aber Rivalität so tief in unsere sozialen und ökonomischen Institutionen einzuschreiben sei ein gefährlicher Fehler, stellt Jackson fest: »Wir müssen nach der Einsicht handeln, dass wir von einem ausgedienten Glaubenssystem bestimmt werden, das dabei ist, uns von der Klippe zu stoßen.«

Wirtschaftswachstum ist für den Autor auch deshalb ein Märchen, weil es eher Ausnahme als Norm ist. Die hohen Wachstumsraten der 1960er Jahre waren nur vor dem Hintergrund eines gigantischen und zutiefst zerstörerischen Abbaus schmutziger fossiler Brennstoffe möglich. Seit einem halben Jahrhundert sind wir aber mit einer sinkenden Arbeitsproduktivität konfrontiert und »… nur Wachstum kann uns noch aus der Patsche holen, in die uns das Wachstum gebracht hat«. Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen 20 Jahre sollte jedoch klar sein, dass niemand anderes dafür verantwortlich ist als der Kapitalismus selbst. Es handle sich, so Jackson, um eine Ansammlung von Fehlern, in der nicht nur der kurzfristige Profit über langfristiges Wohlergehen gestellt, sondern auch Arbeit selbst systematisch entwertet wurde. Die Pandemie führe uns gerade drastisch vor Augen, dass dies insbesondere jene Tätigkeiten betrifft, die uns als Gesellschaft eigentlich besonders wichtig sein sollten. Und dabei gehe es nicht nur um die ökonomische Dimension, sondern die individuell und kollektiv als Sinn stiftend erlebten Aspekte von Arbeit.

Wachstum will Grenzen im Sinne von Einschränkungen überwinden. Aber, fragt Jackson, sind es nicht erst Grenzen, die uns unseren Platz im Leben zeigen und ein sinnvolles Leben ermöglichen? Gleichgewicht, nicht Wachstum, sei die Essenz von Wohlstand und der erste Schritt, um das Zeitalter der Unvernunft hinter uns zu lassen.

»Wie wollen wir leben?« ist durchwoben mit wissenschaftlichen, politischen und geschichtlichen Bezügen und Anekdoten, die unser widersprüchliches, dysfunktionales und überholtes wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln aufzeigen. Weil der Autor dabei nie belehrend ist, kann das Buch, nachhaltig verpackt unter dem Weihnachtsbaum, die unterschiedlichsten Leserinnen- und Leserherzen begeistern, nachdenklich machen und besinnliche Stunden zum Jahresabschluss schenken: eine Einladung, über gestern, heute und morgen nachzudenken.

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