Wie viel Insekt steckt in uns?
Was hat eine Ameise mit einem Computer zu tun? Sie bringt ihm Problemlösen bei. Schließlich beherrscht das Insekt diese Fähigkeit auf einzigartige Weise – wenn auch nicht allein. Einzelne Ameisen zeigen ein überschaubares Verhaltensrepertoire und begrenzte Geisteskraft. Als soziale Lebewesen sind sie aber in ein Kollektiv eingebunden und interagieren unablässig. So meistern sie Herausforderungen wie die Futtersuche oder Verteidigung dezentral und höchst effizient. Daran modellieren Wissenschaftler seit einiger Zeit auch komplexe Systeme mit Hilfe von »Ameisen-Algorithmen«.
Insekten als Spiegel für unser Zusammenleben
»Als autonome Agenten bevölkern Ameisen nun das virtuelle Medium des Computers«, schreibt Eva Johach in »Wilde Soziologie. Soziale Insekten und die Phantasmen moderner Gesellschaften«. Ihr materialreiches Buch zeigt auf, wie Forscher Kolonien von Bienen, Ameisen und Termiten über Jahrhunderte als eine Art Spiegel für unser eigenes Zusammenleben interpretierten. Die Lektüre ist anspruchsvoll, lohnt sich aber: Die Autorin zeichnet faszinierende Kapitel aus der Geschichte der Soziologie sowie aus der Biologie und Insektenforschung nach.
»Die Auseinandersetzung mit Insektengesellschaften zielt in den Kern gesellschaftstheoretischer Fragestellungen«, schreibt sie. In der Vergangenheit war der Grundgedanke, dass sich Gesellschaften auf einem mehr oder weniger vorgegebenen Weg entwickeln und der Mensch den evolutionär älteren Insekten hinterherhinkt. Sie galten als Repräsentanten einer sozialen Tiefenzeit und sollten die Naturgeschichte sozialen Lebens offenbaren. »In der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt die Soziologie mit dem Anspruch an, die Gesetzmäßigkeiten eines neuen wissenschaftlichen Gegenstands – Gesellschaft – zu erforschen. Besonders in der französischen Tradition wurde schon früh die Biologie zu einer Bezugsdisziplin der neuen Wissenschaft.«
Egal, wie groß der Sprung von der entomologischen Beobachtung zur soziologischen Theorie auch sein mochte, haben Wissenschaftler Themen wie Herrschaft und Verteilung, Regulation und Kontrolle behandelt. Es ging um die Spannung zwischen Individuum und System, um die soziale Organisation und Integration, um Evolution und Reproduktion. Und um die Stellung des Menschen: »Dass fremde Lebewesen wie Ameisen, Bienen oder Termiten zu scheinbar hoch entwickelten Formen von Gesellschaftlichkeit gefunden haben, gibt bis in die Gegenwart hinein Anlass zu Szenarien, in denen die singuläre Stellung des Menschen dezidiert in Frage gestellt wird.«
Damit nicht genug, sollte sich der Mensch sogar ein Beispiel nehmen. Eine Idee mit langer Tradition: Die Kultivierung von Honigbienen, so schreibt Johach, sei schon im 17. Jahrhundert in ein moralisierendes Begleitprogramm eingefasst gewesen. Demnach biete sich den Haltern eine Möglichkeit zur moralischen Selbstverbesserung.
Sie konnten schließlich im Stock perfekte Herrschaft beobachten mit einem fleißigen und treuen Volk, das ganz auf seinen weisen Bienenkönig ausgerichtet war. Der sich etwa zu der Zeit aber als Bienenkönigin mit fast ausschließlich weiblichen Arbeiterinnern entpuppte. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass die Insekten die festen Vorstellungen ihrer (männlichen) Beobachter konterkarierten, die dann eilends ihre Theorien anpassen mussten.
Dafür interpretierten diese die Ordnung im Stock neu: weg von der »Regierung« und hin zur Fortpflanzung als Grundprinzip. »Die Betonung, dass die Königin nicht herrsche, sondern ›nur‹ Mutter des Stocks ist, wird sich fortan zu einem wiederkehrenden Topos entwickeln«, schreibt Johach. »Was dabei immer wieder bekräftigt wird, ist die Tatsache, dass der Bienenstock eine ›bloß‹ reproduktive Ordnung darstellt.« Vor allem die vermeintlich natürliche Geschlechterordnung und Mutterrolle beim Insekt und beim Menschen ließen Raum für Interpretation – bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Eine verheerende Lesart des Bienenstocks forderte etwa einen höheren Stellenwert der Frau in der Gesellschaft, »und zwar nicht einfach nur aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit, sondern weil nur so die ›fitness‹ eines Volkes zu bewahren und ›Rassenselbstmord‹ (»race suicide») zu verhindern ist«. Das ist der »eugenische Feminismus«, der Mutterliebe nicht bloß als sorgende Kraft in der Familie sieht, sondern als aktiv gestaltendes Prinzip gesellschaftlicher Organisation – für den Erhalt und die Verbesserung der »Rasse«. Frauen sollten demnach nicht nur »fitte« Partner auswählen, sondern auch beim Nachwuchs selektieren.
Utopie und Dystopie liegen beim Blick auf Insektengesellschaften seit jeher eng beieinander, was sich auch in der literarischen Auseinandersetzung niederschlägt. Dann wird – entsprechend zur Insektenkolonie – das System auch gegenüber dem Individuum Mensch übermächtig. Aldous Huxley beispielsweise ließ sich bei seinen Roman »Brave New World« nach eigener Aussage von Termitenvölkern inspirieren. Aber auch real existierende Systeme konnten in den Verdacht der Insektisierung kommen, ob im kommunistischen Osten oder im kapitalistischen Westen, in dem alle blind nur einem Ziel nachjagten – dem Konsum.
Mittlerweile sieht die Forschung Ameisen wie Automaten an, die auf Reize regieren, was sie unter anderem für die Forschung zu Schwarmverhalten und künstlicher Intelligenz interessant macht. Die Frage der Entwicklung menschlicher Gesellschaft bleibt aber angesichts der Technisierung, die auch Grenzen aufweichen kann, aktuell. Es gibt bereits Miniroboter, die mit echten Insekten jenseits aller tradierten Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit interagieren. Es könne fast der Eindruck entstehen, schreibt Johach, »dass sich soziale Insekten dem Nachdenken über Gesellschaft derartig geschmeidig anpassen ließen, dass sie zunächst die Etablierung, schließlich aber auch die Auflösung der Kategorie Gesellschaft begleiten konnten«.
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