Moralisch handeln in der Wirtschaft
Ein Fußballspieler liegt verletzt am Boden, der Schiedsrichter unterbricht die Partie. Da ist es nur fair, wenn nach Wiederanpfiff jene Mannschaft den Ball erhält, die vorher in dessen Besitz war. In einem Champions-League-Spiel 2012 nutzte der Brasilianer Luiz Adriano jedoch eine solche Gelegenheit aus, um das Spielgerät an sich zu nehmen und ein Tor zu schießen. Nach dem Spiel verteidigte er seine Aktion mit der Begründung, dass man ihn fürs Toreschießen bezahlt und es auch von ihm erwartet. Das Verhalten des Kickers war nicht regelwidrig – aber war es legitim? Und falls nein, rechtfertigt dies eine Bestrafung des Spielers? Wie könnte sie aussehen?
Der Wirtschaftsethiker Nils Ole Oermann nutzt dieses Beispiel, um in seine Disziplin einzuführen. Wir alle haben zwar ein "Bauchgefühl" dafür, was angemessen und richtig ist, und können damit die meisten Alltagsprobleme intuitiv bewältigen. Allerdings ist dieses Gefühl sehr subjektiv und schwer begründbar. Die Wirtschaftsethik dagegen versucht, möglichst objektive Werte und Maßstäbe zu definieren, indem sie ethische Dilemmata systematisch strukturiert, analysiert und daraus Kriterien für mehr oder minder moralisches Verhalten entwickelt. Dabei lassen sich "teleologische" und "deontologische" Ansätze unterscheiden. Erstere fokussieren auf die Motive des Handelnden, letztere auf die Konsequenzen der Handlung.
Parforceritt durch die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft
Ethische Konflikte gibt es in der Wirtschaft zuhauf, angefangen beim Arbeitslosengeld über die Mindestlohn-Debatte bis hin zur Schuldenpolitik. Wer sich zu solchen Dilemmata eine kompetente Meinung bilden möchte, muss sich laut Oermann nicht nur in Ethik und Philosophie kundig machen, sondern auch mit den Regeln der Mikro- und Makroökonomie vertraut sein. Um seinen Lesern dies alles zu vermitteln, legt der Autor einen Gewaltmarsch durch die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft, Philosophie und Ethik vor. Dabei streift er die Werke von Aristoteles, Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Karl Marx, Friedrich August von Hayek und vielen anderen. Zudem befasst er sich mit dem deutschen Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre. Da Oermann das alles auf etwa 30 Seiten abhandelt, steigt er nicht sehr tief in die Materie ein. Dennoch gelingt ihm eine anregende Zusammenfassung wirtschaftsethischer Probleme der zurückliegenden Jahrhunderte.
Sodann erläutert der Autor Schlüsselbegriffe wie Gerechtigkeit, Werte, Verantwortung und Menschenwürde. Dieser Abschnitt ist leider sehr viel trockener und weniger inspirierend als die vorherigen. Dass es beispielsweise für Unternehmen wichtig ist, vertrauenswürdig und verantwortungsbewusst zu wirken, es aber kaum konkrete Maßstäbe dafür gibt – insbesondere im Marketing –, dürfte die meisten Leser nicht überraschen. Gerade zu solchen Themen wünscht man sich ein paar Anregungen, die darüber hinausgehen, auf die “Nachfragemacht” der Konsumenten zu verweisen.
Für und Wider des Mindestlohns
Hochinteressant wird das Buch dann wieder im letzten Abschnitt, wenn der Autor die zuvor erarbeiteten theoretischen Grundlagen heranzieht, um aktuelle wirtschaftsethische Probleme zu bewerten – unter anderem aus den Bereichen FairTrade, Kinderarbeit, Mikrokredite, Nachhaltigkeit und Steueroasen. Oermanns Ausführungen zum Mindestlohn, diskutiert im Spannungsfeld der Arbeiten von Karl Marx, Thomas Piketty, Immanuel Kant und Martin Luther, sind nicht nur spannend zu lesen, sondern verdeutlichen auch die wissenschaftlichen Kriterien der Wirtschaftsethik.
Trotz einiger Schwächen gelingt es Oermann im Großen und Ganzen, sein Ziel zu erreichen, "für einen weiten Leserkreis außerhalb der Fachwelt [...] ebenso pointiert wie fundiert darstellen, was Wirtschaftsethik ist".
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