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»Wissenschaftsfreiheit und Moral«: Auf der Suche nach einem »Schlupfloch«

Mit dem Begriff der »Irrtumskosten« argumentiert Tim Henning für eine moralische Perspektive auf die Wissenschaft. Sein Ansatz ist spannend, hat aber Schwächen.
Büste der Gerechtigkeitsgöttin mit verbundenen Augen

Dass wissenschaftliche Erkenntnisse moralisch kritisiert werden, ist tägliche Praxis in den Medien, etwa bei umstrittenen Tierversuchen, Klimamodellen und nicht zuletzt bei den längst noch nicht aufgearbeiteten Folgen der Covid-19-Pandemie. Aber solche Interventionen sind meist von unklaren moralischen und politischen Interessen begleitet und werden von wissenschaftsfremden Personen vorgetragen.

Der Philosoph Tim Henning argumentiert dagegen in seiner Theorie – scheinbar  – strikt wissenschaftsimmanent, wenn er fragt: »Können moralische Gründe es rechtfertigen, ein wissenschaftlich gewonnenes Resultat zurückzuweisen?« Dabei betont der Autor durchgehend das Primat der Wissenschaftsfreiheit, insofern er die epistemische Korrektheit der Ergebnisse zur Bedingung dafür macht, dass eine Aussage Anerkennung findet. Die Autonomie der Wissenschaft dürfe nicht angetastet werden. Selbst der moralisch-kritische Blick auf wissenschaftliche Ergebnisse müsse sich an »die Maßstäbe« halten, die »dem zentralen epistemischen Ziel – der Wahrheit – dienen.«

Aber wie sieht vor diesem Hintergrund eine wissenschaftsinterne Konzeption aus, die moralische Kritik an epistemisch validen Ergebnissen möglich macht? »Moral kann in der Frage relevant sein, wann Belege hinreichend sind.« Das von Henning vorgeschlagene »Schlupfloch« sind »Irrtumskosten – … praktische Kosten, die drohen, wenn wir nach einer Hypothese handeln und sie falsch ist.« Gut kantianisch schreibt er: »Die Moral kann gewissermaßen eine Leerstelle besetzen, die die theoretische Vernunft lässt.«

Auf der Suche nach dem argumentativen Schlupfloch

Hennings Argumentation ist der analytischen Philosophie verpflichtet. Er schreibt klar und bestechend selbstkritisch, belegt jedes Argument und diskutiert offen sein Für und Wider. Er betont, dass es gute Gründe für Skepsis an seiner Theorie gebe und diskutiert Gegenargumente. Diese Haltung ist lobenswert – und leider selten genug auch bei vielen Philosophen zu finden. Selbst wenn man sich daran stößt, dass der Autor ein »Schlupfloch« sucht, also eine Möglichkeit, auf eine verborgene Art zu entkommen, in diesem Fall dem Dilemma zwischen Wissenschaftsfreiheit und Ethik, muss man ihm die Transparenz seines Denkens zugutehalten.

Funktioniert aber sein »Schlupfloch«? Stützt das Kriterium »Irrtumskosten« hinreichend seine Theorie? Zweifel sind angezeigt. In der Praxis kommt es letztlich darauf an, welche Art Kosten die Bilanzierenden im Für und Wider tatsächlich ansetzen, wie sie Belege eines wissenschaftlichen Ergebnisses epistemisch bewerten und moralisch rechtfertigen.

Drei Beispielen setzt der Autor seine Theorie aus: 1. »Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ« (das wurde in den USA um 1999 kontrovers diskutiert); 2. »Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu« (so die Philosophin Kathleen Stock in der Transgenderdebatte, Sussex 2020); und 3. »Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten.« (eine These des australischen Philosophen Peter Singer aus 1993, die heftige Proteste hervorrief). Nach Ansicht des Rezensenten funktionieren alle drei Beispiele als Test der Theorie Hennings nicht. Nur die ersten beiden haben zudem Relevanz für seine Theorie; beim letzten Beispiel merkt er selbst an, dass sein Einwand einen anderen Charakter habe: Singers These sei nicht epistemisch, sondern selbst moralisch.

Bei jedem dieser Testfälle kann man Henning ankreiden, dass er die Irrtumskosten ideologisch motiviert ansetzt. Beim zweiten Beispiel diskutiert er zwar sprachkritisch biologische Merkmale von »Frau«, bestreitet aber ihre alleinige Gültigkeit. Stärker begründet erscheine ihm deren »soziohistorisch bedingte Rolle oder Identität« im Kontext der Geschlechterrollen. Das gelte dann auch für Transfrauen. Allerdings verzichtet Henning in diesem Fall darauf, die »vermeintlichen und wirklichen Kosten gegeneinander aufzuwiegen.« Stocks These sei ihm nicht ausreichend begründet, daher wäre es »auch moralisch fahrlässig« beim gegenwärtigen epistemischen Stand nur auf die Biologie von Frausein zu schauen und die moralischen Ansprüche für Transfrauen zu missachten. Er plädiert daher für die »Enthaltung«, die zwar Proteste gegen Stock rechtfertige, aber kein »No Platforming« und erst recht keine Gewalt.

Hat Henning seiner Theorie wirklich einen Gefallen damit getan, als Testfälle nur schon öffentlich umstrittene Themen zu wählen? Die Wissenschaft bietet genug problematische Themen, die es wert wären, epistemisch und moralisch untersucht zu werden. Seine Theorie kann man in einem Satz zusammenfassen: Schlechte Wissenschaft ist auch moralisch fragwürdig. Da Wissenschaft aber immer nur vorläufiges Wissen erzeugen kann, ist Hennings Schlupfloch in die Moral wissenschaftsimmanent schwach begründet und kaum seriös berechenbar. Diskussionswürdig ist auch, dass seine These der »Irrtumskosten« eine Gesellschaft begünstigt, die Risiken eher vermeidet. Dennoch ist sein Buch ein wichtiger Beitrag zum Diskurs über dieses so zentrale Thema – und zwar nicht nur für Fachphilosophen.

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